Verborgen. Dieter Aurass
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Er entschied sich für einen drastischen Schritt. Nachdem er die Taschenlampe ausgeschaltet hatte, steckte er die sowieso unnütze Waffe in den Hosenbund. Die Lampe landete in der dafür vorgesehenen Halterung am Gürtel und er streckte beide Arme mit den Handflächen nach vorne zur Seite von sich.
»Ich gehe davon aus«, begann er ganz langsam und bedächtig, »dass Sie, Gnädigste, sich in gleichem Maße unberechtigt in diesem Anwesen aufhalten, wie ich. Deshalb scheinen wir zumindest …«, er machte eine kleine Sprechpause, » … na sagen wir mal … ähnliche Ziele zu verfolgen.«
Er kniff die Augen gegen die blendende Helligkeit ihrer Taschenlampe zusammen. »Würde es Ihnen viel ausmachen, mir mit ihrem Scheinwerfer nicht direkt in die Augen zu leuchten? Sie sehen ja, dass ich meine Waffe weggesteckt habe.« Er zuckte wie entschuldigend mit den Schultern. »Ich denke, unbewusst habe ich die Waffe sowieso nie wirklich einsetzen wollen, sonst hätte ich nicht vergessen, sie durchzuladen.«
Sicher konnte er nicht sein, aber der kurze Augenblick, in dem er die junge Frau gesehen hatte, war ausreichend gewesen, ihm einen Eindruck zu vermitteln … und der war das Gefühl von Harmlosigkeit gewesen. Unter anderen Umständen hätte er sie als attraktiv und interessant eingeschätzt. Der erste Eindruck hatte ihm eine etwa einsfünfundsiebzig große, schlanke, aber dennoch gut proportionierte, Frau von etwa Ende zwanzig, maximal dreißig Jahren gezeigt. Die Haarfarbe hatte er aufgrund der schwarzen Mütze nicht erkennen können und für weitere Einzelheiten war die Zeit zu kurz gewesen.
Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe verließ sein Gesicht und wanderte langsam an seinem Körper entlang nach unten, bis er schließlich bei seinen Füßen angekommen war.
»Ihr Anzug verrät Sie nicht gerade als Einbrecher«, stellte sie mit einem seltsamen Unterton fest. »Aber irgendwie bin ich mir trotzdem ziemlich sicher, dass sie sich nicht wirklich befugt hier aufhalten.«
Was für ein Wunder, dachte Benjamin, schließlich bin ich ebenfalls mit einer Taschenlampe bewaffnet und schleiche hier im Dunkeln herum. Gerade als ihm der Gedanke kam, was dagegensprach, dass er vielleicht ja der bewaffnete Bewohner des Hauses sein könnte, der einen Einbrecher überraschen wollte, offenbarte sie ihm: »Und dass Sie nicht hier im Haus wohnen, weiß ich sicher, denn die Bewohner kenne ich sehr gut. Also, wer sind Sie und was wollen Sie hier?«
Nachdem die Einschränkung seiner Sehfähigkeit durch das Blenden mit ihre Lampe nachgelassen und er sich wieder an die vorherrschende Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte er im Licht der auf den Boden zwischen ihnen gerichteten Taschenlampe ihr Gesicht relativ gut erkennen. Er sah die zusammengezogenen Augenbrauen und den neugierigen Ausdruck, der an ihrem Blick und der Kopfhaltung zu erkennen war.
»Da mir Ihr Erscheinungsbild signalisiert, dass es sich bei Ihnen wohl eher um einen Einbrecher, respektive eine Einbrecherin, zu handeln scheint, sehe ich keine große Gefahr darin, mich vorzustellen.« Nach einer angedeuteten kleinen Verbeugung fuhr er fort, »Mein Name ist Dr. Benjamin Bennedikt, Bennedikt ohne ›c‹, und ich habe einen persönlichen Grund für meine Anwesenheit, der jedoch nichts mit einem gemeinen Einbruch zu tun hat.«
Sie verzog den Mund zu einem indigniert wirkenden Grinsen. »Häh, wieso ohne ›c‹? Wo kommt denn ein ›c‹ in Bennedikt vor? Was für eine Art Doktor sind Sie denn? Reden Sie immer so geschwollen?«
Benjamin seufzte. »Nun, Reden gehört zu meinem Beruf, ich bin Psychotherapeut, und der Umstand, dass Ihnen meine Redeweise ›geschwollen‹ vorkommt, scheint mir eine Frage des Standpunktes und der persönlichen Sprachbildung zu sein.«
Nun fing sie an, schallend zu lachen und präsentierte dabei eine in der Dunkelheit leuchtende Reihe fast perfekter Zähne mit einer kleinen Zahnlücke zwischen den beiden mittleren oberen Schneidezähnen. Er kam nicht umhin, sie süß zu finden. Sein Beruf hatte ihn gelehrt, aufgrund von Äußerungen seiner Mitmenschen nicht so leicht beleidigt zu reagieren. Sie entsprangen in der Regel dem persönlichen Empfinden der Menschen und waren dadurch begründet. Ob sie zutrafen, war eine andere Sache, aber es lag ja an ihm, den Eindruck zu korrigieren, wenn er es für notwendig erachtete.
Er wollte gerade den Vorschlag machen, ob man sich nicht irgendwohin begeben könne, wo man Licht machen und sich in einer angenehmeren Umgebung unterhalten könne, als er wie vom Blitz getroffen zusammenfuhr.
»Keine Bewegung - beide. Nehmen sie die Hände hoch und rühren sie sich nicht vom Fleck.«
Gleichzeitig war erneut eine starke Taschenlampe aufgeleuchtet, die einen Lichtstrahl aus der Dunkelheit vor dem Wohnzimmer auf sie beide warf.
Kapitel 6 - aller guten Dinge sind …
Nachdem er mehr als zwei Minuten bewegungslos wie eine Statue an der gleichen Stelle verharrt war, wollte Kalle sich gerade geräuschlos weiter ins Innere des Hauses bewegen, als ihn ein weiteres Geräusch augenblicklich erstarren ließ. Diesmal war es ein klirrendes Scheppern wie Porzellanteller bei einem Polterabend, und diesmal konnte er die Richtung orten, aus der das Geräusch gekommen war.
Da er immer noch dunkel war und er keine Gespräche hörte, ging er nicht davon aus, dass wider Erwarten doch die Bewohner des Hauses vorzeitig zurückgekommen waren.
›Soviel zu deinem genialen Plan, du Meisterdieb. Wenn das mal keine Probleme gibt.‹
Konnte er da so etwas wie Häme bei seiner inneren Stimme zu heraushören? Aber jetzt war nicht die Zeit, sich mit seinem Problem zu beschäftigen. Es gab vordringlichere Schwierigkeiten zu lösen.
Verdammt, ist da etwa noch ein Einbrecher im Haus? Das darf doch nicht wahr sein! Er war sich nicht im Klaren, ob er sich mehr über die unerwartete Gesellschaft ärgern, oder eher erleichtert sein sollte, dass es sich lediglich um unerwünschte Konkurrenz handelte.
In selben Augenblick, als er den Entschluss gefasst hatte, sich vorsichtig der Herkunft des Geräuschs zu nähern, hörte er erneut etwas - diesmal allerdings vom oberen Ende der Treppe zu seiner Linken.
Was ist denn hier nur los? Das gibt’s doch gar nicht.
Vorsichtig drückte er sich gegen die Rückseite der Treppe und wagte es nicht einmal, tief Luft zu holen. Einen Moment lang befürchtet er, sein verräterisch laut und heftig schlagendes Herz könnte ihn verraten. Er zwang sich, langsam, tief und so geräuschlos wie möglich ein- und auszuatmen, um seinen Puls wieder auf ein normales Niveau zu senken.
Dabei spähte er vorsichtig in Richtung der Treppe und versuchte, den Verursacher des Geräuschs zu sehen. Was er sah, war ein dunkler Schemen, der sich vorsichtig die Treppe herunter bewegte - ein ziemlich großer Schemen. Die Person, die sich ihm als nicht mehr als ein Schatten darstellte, bewegte sich in Richtung des Wohnzimmers. Die allgemeine Grundhelligkeit in städtischen Gebieten, die durch das große Wohnzimmerfenster drang, ließ ihn den Mann - aufgrund der Statur war er sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte - als dunklen Umriss vor dem erkennbaren Rundbogendurchgang zum Wohnzimmer erkennen. Geräuschlos schlich er näher heran. Er war sich sicher, dass die Aufmerksamkeit des beeindruckend großen Kerls, den er auf mindestens einsfünfundneunzig schätzte, sich eher auf die Ergründung der Geräusche im Wohnzimmer richtete.
Überrascht und amüsiert belauschte er die ungewöhnliche, zeitgleich stattfindende Konversation von »Wer sind Sie?« und »Sie zuerst!«. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Was sind das denn für Amateure?