Bis die Gerechtigkeit dich holt. Ute Dombrowski
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„Ja, bitte?“
„Hier ist Sascha, Ihr Unfallgegner. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Sie stören keineswegs, ich habe gerade an Sie gedacht.“
Wie gut, dass er nicht sehen kann, wie rot ich bin, dachte Lisa mit glühenden Wangen. Am Telefon fühlte sie sich sicherer als in der Realität. Sascha plauderte fröhlich weiter und hatte das Herz der jungen Frau längst erobert.
„Sie waren so schnell weg, da wollte ich doch mal fragen, wie es Ihnen geht. Ist alles in Ordnung? War ich zu aufdringlich?“
„Nein, es ist nur“, stotterte Lisa, „ich kenne das nicht, dass sich ein Mann für mich interessiert.“
„Nein, nicht möglich! Ich finde Sie atemberaubend. Wie kann ein Mann sich nicht für Sie interessieren? Darf ich Sie wiedersehen? Ich sterbe sonst und Sie wollen doch nicht an meinem Tod schuld sein.“
Lisa sagte lachend zu, als er sie dann noch fragte, ob sie am Wochenende gemeinsam spazieren gehen wollten. Sie verabredeten sich am Schloss Johannisberg, um von dort durch die Weinberge zu laufen und anschließend etwas zu essen. Lisa machte ihr Handy aus und den Fernseher an. Sie sah nicht hin, denn ihre Gedanken waren bei Sascha.
8
„Bitte, Frau Weißlinger, der Mann ist tot, also reden Sie endlich. Er kann Ihnen nichts mehr tun.“
Bianca saß auf der abgewetzten Couch im kleinen Wohnzimmer des alten Hauses in Rüdesheim Frau Weißlinger gegenüber und versuchte nicht zu atmen. Die Luft war abgestanden, roch nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Dazu kam eine unsägliche Mischung aus dem Gestank des nicht ausgelehrten Mülleimers und dem Katzenklo. Biancas sensible Nase und ihre Nerven wehrten sich heftig. Sie schaute Michael an, der am Fenster lehnte und angewidert dreinschaute. Hinter seiner Stirn brodelte es und er hätte diese kleine, magere Frau sehr gerne geschüttelt.
„Ich … er … Hanka … Robert war nicht immer so. Er hat mir und der Kleinen ein Zuhause gegeben, nachdem mich mein brutaler Ex-Freund aus dem Haus geprügelt hatte. Es war gut bis zur Hochzeit, als wir hier eingezogen waren, dann begann er, mich einzusperren und auch Hanka durfte nicht hinausgehen. Aber eines Tages stand die Lehrerin vor der Tür und hat mit dem Jugendamt gedroht, da hat er wenigstens Hanka gehenlassen. Ich habe geputzt und gekocht, alles war sauber und ordentlich. Dann kam ihm der Gedanke, dass wir, Hanka und ich, zu viel Geld kosten und er hat unser Essen rationiert. Wenn jemand zu Besuch kam, gab es immer Kuchen und Wein im Überfluss und er war dann lieb und nett.“
„Hat er Sie geschlagen?“, fragte Michael.
„Nicht immer, nur wenn ich etwas falsch gemacht habe, das habe ich ja auch eingesehen.“
„Verfluchte Scheiße, warum lasst ihr Frauen euch auch noch einreden, es wäre in Ordnung?“
Michael war der Kragen geplatzt, so erregt war er, als die kleine Frau nun auch noch gelächelt hatte.
„Aber wir hatten doch nur ihn. Robert hat uns gut versorgt. Dass er … dass er … Hanka …anfasst … das habe ich nicht gewusst. Ich hatte angefangen, nachts zu arbeiten. Manchmal saß sie heulend im Bett, aber sie hat nichts gesagt.“
„Wahrscheinlich hat er der Kleinen gedroht, ihr oder Ihnen etwas anzutun und dann hat sie geschwiegen“, erklärte Bianca sanft, die gesehen hatte, dass Michael nur noch raus wollte.
Um sie herum war nichts mehr peinlich sauber und gepflegt und die Seele dieser Frau war kaputt, sie hatte seit Tagen nur getrunken und geraucht. Mehrere schmutzige Kaffeetassen standen in der Spüle.
„Frau Weißlinger, Sie müssen mal wieder etwas essen, sonst werden Sie krank. Haben Sie Lebensmittel im Haus?“
Die Frau sah Bianca mit leerem Blick an und schüttelte den Kopf.
„Wozu noch essen? Es ist doch sowieso besser, wenn ich krepiere. Ich habe das Liebste auf der Welt verloren. Schade, dass ich nicht selbst die Kraft hatte, Robert zu erstechen, dann könnte Hanka noch leben. Nun ist alles so sinnlos.“
Bianca nahm ihr Telefon und rief einen Arzt an. Frau Weißlinger würde sich sonstwas antun, wenn man sie alleine lassen würde. Es wurde Zeit, dass sich Menschen wirklich um sie kümmerten. Als der Arzt da war, erklärte ihm Bianca, was passiert war und half Frau Weißlinger, ein paar Sachen zusammenzupacken. Dann wurde sie am Arm zum Rettungswagen geführt, der langsam davon rollte. Michael stand neben Bianca und hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt.
„Sie kann es nicht gewesen sein, schade eigentlich, denn man hätte auf Notwehr plädieren können.“
Im Fall Hanka Weißlinger wurde weiter ermittelt, aber Bianca wusste, dass die Ermittler niemanden finden würden, der das Mädchen auf dem Gewissen hatte, denn ihr Peiniger war tot. Irgendwann würde man die Akte ohne Ergebnis schließen.
9
Kendra war die kleine Hanka nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nachts träumte sie immer wieder diese Szene, in der das kleine Mädchen wimmernd aus dem Gebüsch gekrochen war. Dann sah sie ein offenes Fenster und den zerschmetterten Körper ihrer Schwester Nora tief unter dem Fenster im Schnee liegen. In ihren schlimmsten Nächten trat der Vater hinter sie und stieß sie vom Fensterbrett in die Tiefe und sie flog in Zeitlupe ihrer toten Schwester entgegen. Die schlug plötzlich die Augen auf, hielt ihr die ausgestreckten Arme entgegen, um sie aufzufangen, aber genau dann erwachte Kendra jedes Mal schreiend. Zurück blieb der Gedanke, ob Nora sie fangen würde, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Alle diese Ereignisse aus der Kindheit sah sie wieder deutlich vor sich. Am liebsten hätte Kendra alles vergessen, aber vielleicht sollte sie sich auch aktiv damit auseinandersetzen. Sie wollte das mit ihrer neuen Freundin Lisa besprechen, vielleicht könnte man sich irgendwo engagieren, um Kindern, die in Not waren, zu helfen. Sie stand schweißgebadet auf und war alles andere als ausgeruht. Am Nachmittag wollte sie sich mit ihrer Mutter treffen, die sie regelmäßig einmal im Monat zum Kaffee in die Altstadt einlud. Mehr Kontakt hatten sie nicht, auch wenn die Mutter extra in Kendras Nähe gezogen war. Sie konnte und wollte nicht verstehen, warum ihre Mutter zugelassen hatte, dass Nora gestorben war.
Sie ging ins Bad, trank danach eine Tasse Kaffee mit viel Milch im Stehen und zog sich an, um in die Universitätsbücherei zu fahren. Dort hatte sie eine Stelle als Bibliothekarin, die sie über alles liebte. Oft ließ sie sich für die Abendschicht einteilen, denn dann waren nur noch die wirklich interessierten Leser da. Die meisten Studenten gingen abends lieber feiern. Oft saß sie mit dem einen oder der anderen zwischen den Regalen auf dem Teppich und sprach mit ihnen über Kultur, Kunst und die Welt. Heute war Kendra zusammen mit Frau Schmidt im Frühdienst. Ihre Kollegin war Anfang sechzig und verliebt in den Hausmeister. Oft standen die beiden turtelnd am Getränkeautomaten. Wenn Frau Schmidt dann heimging, sah Kendra vom Fenster aus den Hausmeister mit einer kleinen Blume vor der Tür. Kendra war gespannt, ob und wann sich die beiden einmal außerhalb der Bücherei verabreden würden, aber sie befürchtete, dass dies niemals geschehen würde.
Heute Morgen war Frau Schmidt schon da. Sie sagte „Kendra“ und „Sie“, denn sich auf der Arbeit zu duzen fand sie unpassend. Kendra sagte „Frau