Der letzte Tag. Walther Nithack-Stahn
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In der Hauptstadt, vor dem Großdruck des Maueranschlages stehen die Menschen. Hundert vielleicht, nicht mehr; es ist ja an tausend Stellen zu lesen. Fast unbeweglich stehen sie, ganz vorn einige Kinder mit offenen Mündern, in den hinteren Reihen reckt man die Hälse, neue treten heran ohne Drängen, niemand geht. Lernen sie es auswendig oder ist es so schwer zu verstehen, daß sie immer von vorn anfangen? – Ganz ruhig, sachlich ist es gesagt, in wenigen Zeilen. Wie ein Krankheitsbericht erfahrener Ärzte über einen Allbekannten, der in ernster Gefahr schwebt, wenig Hoffnung. »Menschlicher Voraussicht nach ...« Das ist im Druck gesperrt. An diesen Worten haftet das gleitende Auge der Lesenden, dahin kehrt es zurück, daran klammern sich die Gedanken ... Am Schluß die Mahnung: »Ruhe zu bewahren«. »Jedermann gehe, solange er kann, an sein Tagewerk.« »Laßt uns unter allen Umständen der Menschheit Ehre machen!« Tägliche Mitteilungen der maßgebenden Forscher werden verheißen; wenn es not sei, noch öfter ... so verkünden die Obersten im Rate der Völker.
Etliche haben wohl ausgelesen. Sie wenden sich halb und blinzelnd mit beschatteten Augen zur Sonne hinauf und zu – dem daneben ... und lesen wieder.
Mit einem Male läutet es vom Dome, mit allen Glocken, und nah und fern setzt das tiefe Gedröhn ein, hunderttönig.
Die Menschen stehen und schweigen ...
*
Das große blonde Mädchen hat das Fenster leise geöffnet und steht nun, in den Rahmen gelehnt, den Kopf zurückgelegt, mit halb geschlossenen Lidern, während über die Dächer und Höfe hinweg das dumpfe Tongewühl fließt. Unter dem weißen Latz der häuslichen Schürze hebt sich die volle Brust wie im ruhigen Schlaf, die kräftigen Arbeitshände, mit dem einzigen goldenen Reif an der Linken, hängen lose gefaltet, warm weht's von den Blütenbäumen herein, daß die Gardine sich wie ein Schleier über ihr bauscht ...
Da poltert es drinnen die Treppe herauf, die Tür wird aufgerissen, mit erhitzten Gesichtern Schulknabe und -mädchen.
»Du, unser Lehrer sagt –!« Der Anblick der Träumenden läßt ihn stocken. Auf den Zehen schleichen die beiden durchs Zimmer und kramen leise in ihren Sachen.
Nun kommt die Mutter, fast unhörbar, steht einige Augenblicke still, blickt über den einfach gedeckten Tisch; dann geht sie zu dem großen Mädchen, umfaßt es und legt den grauen Scheitel an seine Schulter. Rasch sind auch die jüngeren zwei an sie gedrängt, sie legt die Arme um alle und sagt mit weicher Stimme: »Meine Kinder!«
»Die Liese sitzt in der Küche und weint«, plaudert ihr der Junge ins Ohr.
Sie nehmen schweigend ihre Plätze um den Tisch und löffeln die Suppe. Die Glocken wirbeln noch immer durch- und widereinander.
Da auf der Treppe langsame Tritte. »Der Vater!« flüstern die Kinder. Er steht hoch und ernst in der Tür, noch blasser als sonst, noch strengere Mienen. Plötzlich überfliegt es ihn seltsam. Er beugt sich zu der Frau nieder und küßt sie auf die Stirn. Sie blickt verwundert, wird rot und kämpft zwischen Lächeln und Tränen. Er geht um den Tisch herum und drückt seinen Mund auf jedes Kindes Haar.
»Habt ihr auch gebetet?«
Die Frau schüttelt den Kopf.
Er setzt sich und blickt in den Schoß, alle tun ein Gleiches, die Kinder mit großen, bangen Augen.
»Heut abend ist Andacht in allen Kirchen. Kommt ihr mit?« Stummes Nicken ringsum.
Nun kann sich der Junge nicht länger halten: »Vater, unser Physiklehrer sagt –«
Ein Blick der Mutter macht ihn schweigen.
Die große Tochter geht hinaus und herein, bedient den Tisch; noch ist kein weiteres Wort gefallen.
Endlich hat das Geläute ausgesetzt. Man hört wieder die Vögel draußen zwitschern; ganz in der Ferne das Mittagszeichen der Fabriken. Es ist, als wäre ein Bann gebrochen. Da wagt die Frau dem Manne die Hand auf die seine zu legen. »Edmund – ist es denn wirklich wahr?«
Er atmet tief auf. »Ich weiß nicht mehr als ihr – als alle. Das meiste könnte noch Sigrid wissen. Was sagt denn Archibald?«
Dem Mädchen rinnt es über die Wange.
»Hat er nicht wenigstens geschrieben?«
»Nur, daß er Tag und Nacht beschäftigt ist.«
»Man munkelt, es gäbe unter den Sachverständigen auch Zweifler; aber sie seien überstimmt worden.«
»Unser Lehrer sagt auch, es wäre nicht wahr.«
»Dein Lehrer ist dafür nicht maßgebend.«
Die Frau, noch immer verschüchtert: »Gehst du nun weiter in den Dienst?«
»Aber ich bitte dich, welche unsinnige Frage! Bis jetzt ist der Himmel doch nicht eingefallen. In der Bank geht es wie jeden Tag. An der Börse ist noch kein Papier deshalb gestürzt. An den Sparkassen vollkommene Ruhe – man könnte sagen, unheimliche Ruhe.«
»Ja, das ist ein gutes Zeichen.«
Er lacht belustigt auf. »Wenn ihr Frauen über so etwas redet! Beste, hier handelt es sich doch nicht um Menschendinge, die man erraten und beeinflussen kann. Hier steht doch nicht Geld auf dem Spiele. Geld! Entweder das Betreffende geschieht nicht – dann gilt der Kurs von heute – oder es geschieht, dann ist alles Gold wie Kieselsteine – noch nicht einmal: Luft, Feuer, was weiß ich. Mit solcher Sache kann man doch nicht handeln, spekulieren – man kann doch nicht –«
Er ist plötzlich aufgestanden, ans Fenster getreten und starrt hinaus.
»Ich meinte nur: die Ruhe im Geschäft läßt darauf schließen, daß man im allgemeinen nicht an – das Unglück glaubt.«
»Wieso? Warum? Was kommt hier auf Glauben an? Vielleicht – es könnte ja auch noch manches eintreten – es könnte Stille vor dem Sturme sein. Ich muß fort.« Er wendet sich rasch zur Tür.
»Wann gehen wir zur Kirche?«
»Ich weiß nicht, ob ich Zeit finde. Ihr werdet das Läuten hören ... geht nur.«
»Edmund – wenn etwas Besonderes geschieht – du kommst doch sofort?«
»Aber natürlich. Heute doch keinesfalls.«
»Edmund –!«
Er ist schon hinaus. –
Schwere Stille. Die alte Wanduhr tickt die rückenden Sekunden. Rings um den ererbten nüchternen Hausrat graut der Alltag. Sigrid erhebt sich leise.
»Kinder, bleiben wir beieinander – man weiß nicht, wie lange noch.«
»Mutter – auf eine Stunde laß mich gehn!«
»Darfst du denn zu ihm?«
»Ich