Der letzte Tag. Walther Nithack-Stahn
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Читать онлайн книгу Der letzte Tag - Walther Nithack-Stahn страница 6
Steht denn in all den Gesichtern nichts zu lesen, nichts von dem Ungeheuren, was da heraufsteigt, Riesenschatten vor sich herwirft, daß man sich ducken möchte, sich im Schoß der Erde verstecken – und weiß doch, da ist kein Entrinnen – und das Herz krampft sich in Todesangst zusammen? Ja, ernst sehen die meisten vor sich hin, Falten auf mancher Stirn, eilfertig scheinen diese und jene, als wollten sie noch etwas in Ordnung bringen. Aber ist das nicht das Gewöhnliche, worauf man sonst nicht geachtet, der Seelenausdruck dieser großen Menschengemeinde, die vom Kampf ums Dasein umgetrieben wird? Plötzlich ein helles Lachen hinter Sigrids Rücken, ein Ton, bei dem man zusammenzuckt. Ach so, Schulmädchen, halbe Kinder, die Mappe im Arm, denen ein Jüngling mit bunter Mütze grüßend etwas zugerufen ... ja, das scherzt so weiter.
Im Vorortzuge wird einem schon mehr offenbar. Stumm und stumpf sitzen die Leute sich gegenüber, jeder mit seinen Gedanken allein, ratlos erscheinen sie, mit hochgezogenen Brauen sinnt einer zum Fenster hinaus in die unbegreifliche Welt ... Im Nebenabteil hört man eine Mannesstimme im belehrenden Tonfall sagen: »Kurz und gut, die ganze Geschichte ist ein Riesenfeuerwerk für die urteilslose Menge, ein großartiges Geschäft. Was meinen Sie, was jetzt an der Börse losgehen wird? Haben Sie Papiere, mein Herr? Verkaufen Sie alles, Hals über Kopf, Sie wollen doch noch die paar Tage Ihr Leben genießen? Verkaufen Sie um jeden Preis! Hahaha – so etwas ist noch nicht dagewesen! Die Welt will betrogen werden! Immer zu!«
Ein leiserer Sprecher wirft ein: »Aber der Stern ist doch da. Oder halten Sie den für Augentäuschung?«
»Natürlich ist er da. Was irrlichteriert nicht alles am Himmel herum. Wenn das so gefährlich wäre, wär' unsre Erde nicht Millionen Jahre alt geworden. Kinderschreck!«
»Aber die Astronomen behaupten doch –«
»Erstens erfährt man nicht, was sie wirklich behaupten, sondern nur, was die Herren da oben für gut halten bekanntzugeben. Und zweitens sind die auch vom Geschäft.«
»Erlauben Sie mal, die Wissenschaft –«
»Glauben Sie noch an die Wissenschaft? Kapital ist alles. Früher machten die Pfaffen das Volk dumm, heute die angestellten Gelehrten. Nur nicht verblüffen lassen. Ich will Ihnen was ins Ohr sagen: Kaufen Sie schleunigst Papiere, kaufen Sie – hahaha!«
Ein trübes Lächeln auf dem und jenem Gesicht, unwilliges Aufzucken. Sigrid ist heißes Blut in die Wangen gestiegen. Der Zug hält. – Der alte Pförtner am Gittertor des umfriedeten Waldberges will sie nicht einlassen: strengster Befehl der Regierung, die Warte sei militärisch besetzt. Als sie sich aber Archibalds Verlobte nennt, wird sein Benehmen achtungsvoll. Unter den leise rauschenden Kiefern führt er sie den gewundenen Steig hinauf zu dem ragenden Tempelbau mit der silbrig glänzenden Kuppel. Neugierig sehen die bewaffneten Posten auf die bräutlich-weiße Gestalt, die da wartend steht. Und nun darf sie zum erstenmal die Säle mit den geheimnisvollen Werkzeugen durchschreiten, wo da und dort ein grauer Kopf verwundert sich nach ihr wendet, die eisernen Treppen hinauf in das seltsame, runde Bollwerk, von feierlichem Oberlicht erhellt, aus dem es wie ein Riesengeschütz sich gen Himmel kehrt, der Erdenkinder schärfstes Auge nach oben starrt, den fernen Feind zu erspähn, zu erforschen ...
Dort am Tische sitzt er, über Blätter gebeugt, dem ihre Seele entgegenzittert, blaß, mit eingesunkenen Augen; hinter ihm an der Wand ein Ruhebett, dessen glatte Decke keinen Gebrauch verrät.
»Was willst du von mir?«
»Nichts, als bei dir sein.«
Die Worte hallen hohl im Raume wieder.
»Ich habe nicht Zeit für dich.«
»Du brauchst mir keine zu schenken. Ich möchte an deinem Bette wachen, wenn du schläfst; dich wecken, wenn du willst. Laß mich.«
»Ich habe keine Zeit zu ruhen. Das Fernrohr muß bedient werden.
»Lehre mich, wie man hindurchsieht. Ich löse dich ab, ich will gut aufpassen.«
Ein ernstes Lächeln um den faltigen Mund. Er steht auf und umfaßt mit den schmalen Fingern ihre runden Kinderhände. So zieht er sie neben sich auf das Polster nieder, lehnt sich müde an sie. –
»Archibald, ist es wahr? Sind wir verloren? Ich sage es nicht weiter.«
»Niemand weiß etwas. Aber die Gefahr ist groß.«
Sie sitzt mit aller Kraft aufrecht, trotz des mächtigen Herzschlags, der sie durchschüttert, und läßt mütterlich seinen schweren Kopf auf ihrer Schulter ruhn.
»So laß mich bei dir bleiben.«
»Es geht nicht, Sigrid. Hier im Hause der Männer. Ich habe nur diesen Raum.«
Sie mißt ihn verwundert von der Seite: »Rücksicht auf Menschengerede –?«
»Um deinetwillen.«
»Angesichts dieses Schicksals?«
»Es ist auch nicht nötig. Ich bin versorgt. Du kannst mir nicht helfen. Wenn das Äußerste käme, rufe ich dich.«
»Und wenn es plötzlich käme?«
»Ich kann es vorhersehen, ich rufe beizeiten.«
Sie sitzen eine Weile schweigend. Irgendwo drehen sich geheime Räder, schwingen Pendel, schlägt ein Zeitmesser.
»Archibald, hältst du es für möglich, daß es Männer der Wissenschaft gäbe, deinesgleichen, die anders sprechen, als sie denken, um Gewinnes willen?«
»Mag es die geben, ich kenne solche Elenden nicht.«
»Ist es denkbar, daß andere Leute, die gewohnt sind, Geldgeschäfte zu machen, aus der großen Not dieser Tage einen Vorteil ziehen – können – wollen?«
»Das verstehe ich nicht.«
Sigrid gibt das Gespräch wieder, das sie im Bahnwagen gehört.
»Schon im Scherze dergleichen zu reden, dünkt mich ein Verbrechen. Im Ernste es tun – ich bin auf diesen Gedanken noch nicht gekommen, daß gemeine Habgier solches Spiel mit dem Erhabensten treiben könnte. Undenkbar ist es nicht – jener klägliche Geselle hat recht – daß die Menschheit sich auch noch damit befleckte. Dann allerdings verdiente sie unterzugehn.«
Wiederum tiefe Stille, Sigrids Pulse klopfen, daß es sie schmerzt. Ganz gedämpft, aus weiter Ferne, summt es verworren. Er nickt: »Totengeläut. Das ist der rechte Ton, bevor wir ins feurige Grab sinken. Der sollte alles übertönen.«
»So sprichst du?«
»Wofür hältst du mich?«
»Ich dachte immer, du kenntest nur den Himmel, den man messen und ausrechnen kann.«
»Da ist das Unberechenbare, Unermessene. Das, was größer ist, als alle unsre Gedanken jemals sein werden.«
»Und wie nennst du dieses Unbegreifliche?«
»So, wie du es nennst.«
»Du