Wahre Kriminalfälle und Skandale. Walter Brendel
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Mayer ist Mitglied einer in Ulm residierenden "Europäischen Ärzteaktion", die gegen die "Embryonenkiller einer sozialistisch-liberalistischen Konsumgesellschaft" Front macht und die Finanzierung der "sozialen Hinrichtung ungeborener Kinder" aus öffentlichen Kassen und Krankenkassen für verfassungswidrig hält.
Tatsächlich wurden in der alten Bundesrepublik jährlich 200 000 Schwangerschaftsabbrüche von Krankenkassen verrechnet. Hinzu kommen nach einer noch unveröffentlichten Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht mindestens noch 100 000 Frauen pro Jahr, die abtreiben, ohne den Instanzenweg einzuhalten. Auf jährlich 15 000 wird die Zahl jener Frauen geschätzt, die den Eingriff im Ausland vornehmen lassen.
Nur 88 540 Schwangerschaftsabbrüche wurden 1987 an das Statistische Bundesamt gemeldet. Die weitaus meisten Fälle kamen aus Hessen und Nordrhein-Westfalen - Aufnahmeländer für Frauen, denen anderswo nicht oder nur unter erschwerten Umständen geholfen wird.
Mittels "wallraffmäßiger Recherchen" hat Strauß-Gefolgsmann Mayer herausgefunden, dass zum Beispiel 1984 statt der 5011 statistisch erfassten Abbrüche in Wahrheit mehr als 30 000 Abtreibungen, getarnt durch unverdächtige Befunde, von bayrischen Ärzten vorgenommen wurden.
Staatsminister Edmund Stoiber, der spätere Ministerpräsident, wollte die hohen Dunkelziffern, die freilich auch die Wirkungslosigkeit des Strafrechtsparagraphen 218 belegen, dazu nutzen, die Ärzte an die Kandare zu nehmen. Mit Leistungsverweigerung durch die Kassen und verschärften Strafbestimmungen will Stoiber die Ärzte zur Ehrlichkeit zwingen - oder zum Verzicht auf Abtreibungen. Stoiber scheut dabei auch nicht vor einem weiteren jener Alleingänge Bayerns zurück, wie sie die CSU auf vielen innenpolitischen Feldern sucht. In einem Streitgespräch mit Rita Süssmuth nahm Stoiber sogar einen Bruch mit der CDU in Kauf: "Dann müssen halt die im Norden ihr eigenes Wahlprogramm auflegen."
Zwar hielt auch Stoiber eine Änderung des Paragraphen 218 bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen nicht für möglich, er baut aber auf eine zunehmende "Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung". Die soll offenbar durch Prozesse wie in Memmingen beschleunigt werden - mit einer auf schiere Abschreckung angelegten Justizstrategie.
Die 1. Strafkammer am Landgericht - mit fünf Männern schon bedrohlich besetzt - hat nicht weniger als 32 Verhandlungstage anberaumt. Erst am 17. Februar soll nach bisheriger Planung das Urteil über den Ketzer in Weiß gesprochen werden - so lange dauern selbst Mordprozesse selten.
Worauf das Spektakel hinauslaufen soll, ist offenkundig. Nicht, ob der damals einzige Frauenarzt am Ort die soziale Indikation im Einzelfall vielleicht auch einmal zu Unrecht angenommen hat, steht im Vordergrund des juristischen Interesses. Die wahre Funktion des Justizschauspiels liegt in dem Versuch, die im Paragraphen 218 a fixierte Notlagen-Indikation auf dem Umweg über die Rechtsprechung auszuhöhlen oder gar abzuschaffen.
Die bayrische Grünen-Abgeordnete Bause ist überzeugt, diese Marschrichtung für das Memminger Gericht sei von oben verordnet - vom bayrischen Staatsministerium der Justiz. Tatsächlich hätte schon die Anklagebehörde die Möglichkeit gehabt, eine Vielzahl der aufwendig zusammengekratzten Fälle gar nicht erst zur Anklage zu bringen.
Ausdrücklich lässt die Strafprozessordnung eine solche Begrenzung des Prozessstoffs zu - gerade auch, um überflüssige Großverfahren zu vermeiden. Doch für die Memminger Staatsanwälte mussten es immer noch 156 Fälle sein, die sich dem Gynäkologen heute noch vorwerfen lassen, offenbar damit das Spektakel richtig rund wird und auch zur erwünschten saftigen Strafe führt.
"Die Höhe der zu erwartenden Strafe" war schon im letzten Herbst für den Haftrichter der Grund, den bis dahin unbescholtenen Frauenarzt wie einen Schwerverbrecher für sechs Wochen hinter Gitter zu bringen. Länger allerdings ließ sich die Meinung, der Arzt - verheiratet, zwei Kinder - würde womöglich fliehen und sich ins Ausland absetzen, selbst in der bayrischen Justiz nicht mehr aufrechterhalten; er bekam Haftverschonung.
Die 156 Fälle angeblich illegaler Abtreibung soll Theissen zwischen Dezember 1981 und März 1987 vorgenommen haben. Im Schnitt habe er pro Eingriff 400 Mark kassiert. In keinem einzigen dieser Fälle habe eine Indikation zum erlaubten Eingriff vorgelegen.
Alle diese Frauen, denen der Arzt geholfen hat, sind ohne Verschlüsselung mit Namen und Vornamen in der Anklageschrift säuberlich aufgelistet. Der Prozess dürfte sie alle noch einmal an den Pranger bringen. Auch wenn in einigen Verfahrensabschnitten Neugierige nicht in den Zuschauerraum dürfen, müssen die Frauen ihre Anonymität preisgeben und abermals Details aus ihrer Intimsphäre offenlegen - eine moderne Spielart der Inquisition.
Die Anklageschrift liest sich, als hätten ihre Verfasser sich vor lauter Verfolgungsfreude die Hände gerieben. Aufgeführt werden auch Vorwürfe, die dem Gynäkologen gar nicht vorgehalten werden dürfen: "Der Angeschuldigte hat bereits in verjährter Zeit eine Vielzahl von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen gegen Entgelt vorgenommen."
Sonnenklar jedenfalls für die Ankläger: Der Memminger Frauenarzt hat gewerbsmäßig gehandelt, damit sei "jeweils ein besonders schwerer Fall gegeben", der Strafrahmen reicht bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Damit nicht genug: "Die Verhängung eines Berufsverbots wird erforderlich sein."
Ausgelöst wurde die Strafverfolgungslawine durch eine anonyme Anzeige bei der Steuerfahndung in Kempten. Der oder die Unbekannte hatte - womöglich unter Bruch des Steuergeheimnisses - mitgeteilt, Theissen habe Einkünfte aus Schwangerschaftsabbrüchen bei seiner Einkommensteuererklärung nicht angegeben. Im Herbst 1986 nahm das Finanzamt Memmingen seine Ermittlungen auf.
Am 24. September erließ das Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluss, tags darauf wurden Wohnung und Praxis des Arztes durchwühlt und Karteikarten von 1390 Patientinnen aus der Zeit seit Anfang 1977 beschlagnahmt.
Drei Wochen lang fingerte Oberamtsrat Knobelspies von der Steuerfahndung sämtliche ärztlichen Aufzeichnungen durch. Dann schrieb Knobelspies an den Staatsanwalt und bat, das Verfahren "hinsichtlich des Verdachts illegaler Schwangerschaftsabbrüche zu übernehmen".
Bei Staatsanwalt Herbert Krause, kam Knobelspies an die richtige Adresse. Der Ankläger beantragte, die beim Finanzamt zwischengelagerte Patientenkartei für sein Strafverfahren zu beschlagnahmen. Ein Memminger Amtsrichter erließ prompt den erwünschten Beschluss - offenbar ohne rechtliche Skrupel.
Von diesem Zeitpunkt an liefen die Ermittlungen nicht mehr nur gegen den Frauenarzt, sondern auch gegen Hunderte seiner Patientinnen. Im Mai und September 1987 wurden die Theissen-Praxisräume abermals durchsucht und Karteikarten über 201 weitere Patientinnen beschlagnahmt.
Eingeleitet wurden schließlich Strafverfahren gegen 279 Patientinnen und 78 ihrer Ehemänner, Freunde oder Bekannten - wegen Verdachts der illegalen Abtreibung oder hierzu geleisteter Beihilfe. Unbehelligt blieben nur Partner, die ihre Gefährtinnen im Stich gelassen und oft gerade damit, so die Rechtsanwältin Brigitte Hörster, "die Notlagensituation der Frauen verschärft" hatten.
Bis zur Prozesseröffnung wurden gegen 174 Frauen Geldstrafen zwischen 900 und 3200 Mark verhängt - per Strafbefehl. Das ersparte ihnen zwar in eigener Sache fürs erste die Peinlichkeit einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht, doch schon 129 Frauen sind auf diese Weise zu Vorbestraften geworden. 45 Verurteilte haben gegen ihren Strafbefehl Einspruch erhoben, die meisten davon ohne Erfolg, zwei Frauen kamen mit einem Freispruch davon. Die meisten Frauen hatten den gegen sie ergangenen Strafbefehl rechtskräftig werden lassen - nicht, weil sie die Verurteilung als Recht akzeptierten, sondern weil sie jedes weitere