Schatten der Anderwelt. Thomas Hoffmann

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Schatten der Anderwelt - Thomas Hoffmann

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nie hatte zu Nutze machen können, weil er nicht lesen konnte, die randvoll mit Gold gefüllte Schatztruhe des Meisters, für deren Inhalt er dafür umso mehr Verwendung gehabt hätte, und auch jene magische, von Anton Dreyfuß hergestellte Pforte zur Anderwelt im obersten Turmgeschoss – alles war verschmolzen zu einer toten, glasartigen Masse.

      Norbert schloss die Augen. Er drängte die bitteren Gedanken zurück, versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Er zwang seinen Geist zur Konzentration. Alle Sinne richtete er auf mögliche Anzeichen für die Nähe der Anderwelt: ein feines Kribbeln im Nacken, diffuses blaues Flackern in den Augenwinkeln, ferne Geräusche oder Laute... nichts.

      Norberts Puls beschleunigte sich, als er mit einem Zauberspruch das blaue Anderweltleuchten heraufbeschwor: „Elean thanatos!“

      Er wusste, dass es gefährlich war. Bei früheren Versuchen war er in Abgründe gestürzt oder von jenseitigen Wesenheiten angegriffen worden, andere Male war er der schwarzen Dame nur knapp entkommen. Auf alles gefasst, die Hand am Schwertgriff, stand er mit geschlossenen Augen und lauschte...

      Nichts. Norbert öffnete die Augen. Kein blaues Feuer. Nicht der geringste Schimmer diffusen Anderweltleuchtens. Die Grenze war fort. Tränen sammelten sich in seinen Augen, als er in den von wirbelnden Aschenflocken durchwehten Hohlraum der Ruine starrte. Lonnie schien unendlich fern, gefangen jenseits der Grenze. Das Tor, welches ihm ermöglicht hätte, zu ihr zu gelangen, war auf immer geschlossen, zerstört durch die Magie, die Norbert selbst gewirkt hatte.

      Zögernd wandte er sich von der Turmpforte ab. Der Wind wehte wirbelnde Aschenwolken über die Trümmerlandschaft. Die Luft roch nach beißendem, kaltem Rauch. Norbert tränten die Augen. Zwischen verkohlten Balkenresten hindurch stapfte er durch knöcheltiefe Asche dem Rand der Brandzone entgegen. Ein Schrei tobte in seiner Brust, aber er hielt die Lippen zusammengepresst, zwang den Drang, seine verzweifelte Wut herauszubrüllen, nieder.

      ***

      In einer Kellerschänke im Armenviertel setzte Norbert sich außerhalb der trüben Helle, die durch die Kellerluken hereinrieselte, ans Ende der Bank nahe der Gewölbemauer am einzigen Tisch im Raum. Er mochte nicht in den Schwarzen Raben zurückgehen, wo die Abenteurer ihn drängen würden, zu berichten. Er hatte keine Lust, darüber zu reden, was ihm widerfahren war. Es waren keine Abenteuer gewesen, über die man am Herdfeuer Angebereien von sich geben konnte. Aber vor allem wollte er der Harfenspielerin nicht unter die Augen treten, nach der peinlichen Begegnung mit ihr im Waschraum vor Tagesanbruch.

      Norbert ignorierte die hoffnungsvollen Blicke der beiden Mädchen, die beim Herdfeuer beieinandersaßen. Sie trugen bunte Tücher um die hageren Schultern geschlungen. Ihre zerschlissenen Kleider hatten zu tiefe Ausschnitte, um damit auf die Gasse zu gehen.

      Zur Wirtin meinte er: „Bring mir Bier,“ und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „und Schnaps.“

      In Richtung der Mädchen erklärte er: „Und lasst mich in Ruhe!“

      Die Mädchen nahmen ihre leise Unterhaltung wieder auf. Es war ohnehin noch zu früh, um mit Freiern zu rechnen. Aber wo Geld fürs Allernötigste gebraucht wurde, da wollte keine Chance vertan sein. Die Wirtin brachte einen hölzernen Humpen Bier und einen Becher Kartoffelschnaps. Aus Norberts fleckiger, verrauchter Ledermontur und seinem verrußten Gesicht schloss sie, er wäre ein Abenteurer, der beim Löschen der Brände geholfen haben musste.

      „Ein entsetzlicher Fluch, der uns da heimgesucht hat, dieser Feuerbrand,“ klatschte sie im Glauben, den richtigen Ton im Umgang mit einem Freischärler getroffen zu haben. „Wenn ihr Kerls nicht gewesen wärt und die Knechte des Markgrafen, bei allen Sternen, die Armen Brüder hätten noch so viel beten und Glocken läuten können, das Feuer hätte uns alle verschlungen.“

      Mit vertraulicher Ironie und einem Blick auf die Mädchen am Feuer fügte sie hinzu: „die heilige Jungfrau wird mir verzeihen, wenn's lästerlich klingt, was ich sage!“

      Norbert antwortete nicht. Die Wirtin begriff, dass er nicht gekommen war, um zu plaudern oder um sich etwas von der Seele zu reden.

      „In einer Stunde ist die Suppe fertig,“ erklärte sie, bevor sie zum Kessel über dem Herdfeuer zurückging und Norbert seinen trüben Gedanken nachhängen ließ.

      Norbert nahm einen Schluck Kartoffelschnaps und verzog das Gesicht. Der Schnaps brannte ihm in der Kehle. Er war starke Getränke nicht gewohnt. Aber an diesem Tag war es ihm egal, obwohl eine innere Stimme ihn mahnte, lieber nüchtern zu bleiben. Der Schnaps erinnerte ihn an Wildenbruch, an die Jagdausflüge, zu denen Majas Vater ihn mitgenommen hatte. Sein vermeintlicher zukünftiger Schwiegervater hatte ihm einen Jagdbogen geschenkt und er hatte schnell Geschick im Umgang damit bewiesen. Nach erfolgreicher Jagd teilte Björn Feldnersohn oft einen Schluck Schnaps aus der Feldflasche mit Norbert. War es wirklich erst zwei Jahre her? Eine Ewigkeit schien vergangen seit damals.

      Norbert trank den Schnapsbecher aus. Das starke Getränk stieg ihm in den Kopf und linderte seine brennende, verzweifelte Wut und die nagenden Schuldgefühle. Er atmete heftig aus und blinzelte in die trübe Helle der Kellerluke. So waren sie, die Mädchen. Gingen einfach weg. Melanie hätte auf ihn warten können, wenn sie ihn wirklich noch einmal sehen gewollt hätte. Sie hätte den reichen Affen, der behauptete, sie heiraten zu wollen, überreden können, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Norbert hätte ihr schon klar gemacht, was für eine blöde Idee sie sich da in den Kopf gesetzt hatte... Sie war nicht geblieben. Genau wie Sturmkind. Eigentlich war ja er derjenige gewesen, der nicht mit dem Abenteurermädchen mitziehen gewollt hatte, aber der Schnaps machte es ihm leicht, das Vergangene nicht ganz so genau zu nehmen.

      Vielleicht sollte er in den Gornwald zurückgehen und sich mit Wilderei durchschlagen. Im uralten Gornwald war die Grenze nahe. Dort konnte er sich auf die Suche nach dem Quellort von Lonnies gefangener Seele machen. Wilderei war verboten, aber vor den Schergen der Grafen und Fürsten fürchtete er sich nicht. Er war überzeugt, besser mit dem Schwert umgehen zu können als die allermeisten Kriegsknechte. Doch um von der Jagd zu leben, brauchte er Jagdwaffen. Und um irgendwo einen Jagdbogen und Pfeile zu her zu bekommen, benötigte er Geld.

      Er konnte versuchen, den Schwarzalb auszutreiben, der das Haus des Ratsherrn Hohenwart heimsuchte. Dreyfuß hatte für eine Geisteraustreibung zwischen zwei und zwölf Goldtalern genommen, je nachdem, wie gefährlich die Anderwelterscheinung war. Gefährlich würde es in jedem Fall werden. Norbert konnte nur hoffen, dass er das, was dort sein Unwesen trieb, überwinden und bannen konnte, bevor er davon in die Anderwelt hinübergezogen oder in Stücke gerissen wurde. Aber hatte er eine Wahl? Bier und Schnaps halfen ihm bei der Entscheidung. Er entschloss sich, zum Ratsherrn zu gehen.

      Die Wirtin brachte einen zweiten Humpen Bier, aber Norbert winkte ab.

      „Nein danke. Ich nehme noch von deiner Suppe, wenn sie fertig ist. Ich hab noch was vor, heute.“

      ***

      Die sechste Stunde war angebrochen, als Norbert den kopfsteingepflasterten Platz vor dem Haus des Ratsherrn überquerte. Obwohl er sich den Tag über immer wieder darin bestärkt hatte, an seinem Entschluss festzuhalten, war ihm mulmig zumute. Das große, dunkle Haus mit den hohen, noch lichtlosen Fenstern ragte in der Stille der Abenddämmerung auf, wie der Hüter eines lauernden Geheimnisses - schweigend, mit nach innen gekehrten, blinden Augen. Dahinter erhob sich der Burgfelsen, von der untergehenden Sonne in flammendes Rot getaucht.

      Den Nachmittag über war Norbert in den Seitengassen des Armenviertels und der Unterstadt umhergeschlichen, die Hauptgassen meidend, wo er womöglich wieder von irgendwem erkannt worden wäre. Er hatte sich nicht überwinden können, in den Schwarzen Raben zurückzukehren.

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