Schatten der Anderwelt. Thomas Hoffmann
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Lindas Schreie im Haus des Hexenmeisters mischten sich mit dem Geistergeschrei Gefolterter und Sterbender um die brennende Turmruine. Überall sah er Blut. Der Blutschwall aus Lindas aufgeschlitzten Unterarmen, zischend im weißen Rauch des Kohlenfeuers. Sein eigenes Blut, das er erbrach nach dem Kampf mit dem untoten Wächter.
Er tastete nach dem Metallanhänger von Sturmkind. Habe immer den Mut, deinen Träumen zu folgen, war ihre Botschaft gewesen, die sie ihm mit dem Anhänger gesandt hatte. Er umschloss den Anhänger fest mit der Faust. Noch einmal öffnete er die Augen und blickte ins dunkle Zimmer. Lonnie erschien nicht. Er drehte sich zur Seite und wickelte sich fest in die Decken, als könnten sie ihn bewahren vor den blutigen Horrorträumen, die ihn jede Nacht verfolgten. Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war der Gedanke an Melanie. Ob sie jetzt schlief, dort in dem kleinen Zimmer bei Elena? Oder lag sie wach und dachte an ihn?
Durch Träume von Flammen und schwarzmagischen Räuschen, die ihn in dieser Nacht verfolgten, hallte wieder und wieder Wolfsgeheul, einsam und unermesslich fern.
***
Eine Stunde vor Morgengrauen wurde er wach. Er war es gewohnt, mit dem allerersten Halblicht des sich ankündigenden Tages aufzuwachen, wenn die Schwärze der Nacht in erstes Dämmergrau überging. Nur als kleiner Junge hatte er noch bis Tagesanbruch geschlafen, wenn die Frauen schon längst Feuer gemacht und mit der Tagesarbeit begonnen hatten.
Er zog Hosen und Stiefel an und raffte seine wollene Schlupfjacke, die Lederjacke und sein Schwert zusammen. Einen Moment überlegte er, ob den Packen Schreibbögen auf dem Tisch liegen lassen oder besser in den Schrank legen sollte. Aber dann entschied er sich, ihn mitzunehmen. Wenn Sarah die Bögen beim Ausfegen fand, wer weiß, was sie am Ende noch damit anstellte? Kurzentschlossen schob er den Packen unter sein Hemd.
Er tastete sich durch den dunklen Gang und über die Hintertreppe in den Gang zur Hoftür im Erdgeschoss. Als erstes suchte er die Latrinen im Hof auf, um seine Notdurft zu verrichten. Dann ging er zurück ins Haus. Bevor er sich zu Elenas Haus aufmachte, wollte er sich wenigstens den gröbsten Schmutz, verkrustetes Blut und Ruß vom Körper abwaschen. Vielleicht hatte Melanie ja doch noch eine halbe Stunde Zeit für ihn. Nicht, dass er es unbedingt von ihr gewollt hätte – aber für alle Fälle... In weniger als einer Stunde würde er sie wiedersehen. Wie er sich nach ihr sehnte!
Der kahle Raum mit dem Waschbottich und ein paar Holzeimern, der in Gordons Gasthaus als Bad für die Gäste diente, lag gegenüber der Küche. Norbert holte den Kerzenstummel hervor, um im dunklen Bad Licht zu machen – er benötigte keine brennende Flamme, um den Docht anzuzünden – und öffnete die Lattentür.
Im Bad brannte eine Kerze auf dem Rand des dampfenden Waschbottichs. Die Harfenspielerin beugte sich über einen mit Wasser gefüllten Eimer und wusch ihr Haar. Ihre Kleider lagen zusammengelegt auf der Holzbank an der Wand. Wasser glänzte auf ihrer hellen, nackten Haut. Norbert stolperte zurück.
„Oh, Verzeihung.“
Die Bardin richtete sich auf. Mit unverstellter Offenheit schaute sie Norbert ins Gesicht.
„Nein, ist doch in Ordnung. Komm rein. Es ist genug heißes Wasser da. Schöpf dir einen Eimer voll und wasch dich.“
Sie versuchte in keiner Weise, ihre Blöße zu verbergen, wie Norbert es von den Mädchen in Wildenbruch gewohnt war, wenn man sie beim Baden im Fluss ertappte - die einen, indem sie sich scheu davonstahlen, andere kreischend, wenn sie wollten, dass man sie ansah und hübsch fand. Die hochgewachsene schlanke Frau, Norbert schätzte sie um die Dreißig, stand völlig selbstverständlich vor ihm, als wäre es das Normalste der Welt für sie, nackt zu sein.
„Ich hasse es, dreckige Haare zu haben,“ meinte sie zwanglos. „Du kannst meine Seife benutzen, wenn du willst.“
Norbert musste sich zwingen, nicht auf ihre festen, kaum vorgewölbten Brüste oder den hellblonden Haarbusch ihres Schoßes zu starren.
Völlig überrumpelt stotterte er: „Nein, nein, schon gut, ich... ich wollte nur... Entschuldigung, tut mir leid!“
Rückwärts tastete er sich zur Tür zurück, rempelte gegen den Türrahmen und stolperte hinaus.
„Ach, das ist doch dumm!“ rief sie ihm nach.
Norbert antwortete ihr nicht. Wie benommen durchquerte er den Schankraum, zerrte sich Wolljacke und Lederjacke über, gürtete sein Schwert um und trat auf die dämmerige Mauergasse hinaus.
Die engen, verwinkelten Gassen des Armenviertels lagen noch im Dunkeln. Über den Dächern ging der Nachthimmel in tiefes Blau über. Ein erster Streifen Helle lag über den Stadtmauern im Osten. Die Zinnen der Burg hoch über der Stadt glänzten bereits im frühen Sonnenlicht.
Wütend über sich selber stapfte Norbert durch den Gassendreck. Aschenflocken trieben in der Luft. Es roch nach kaltem Rauch. Noch war niemand in den Gassen unterwegs. Das Viertel lag wie in bleierner Ermattung nach dem Horror der Brandkatastrophe. Hinter Lattentüren war das Kratzen von Aschenschaufeln zu hören, wo Hausfrauen die Feuerstellen reinigten, um anzufeuern. Hier und da riegelte eine müde Frühaufsteherin die Hüttentür auf und leerte den Nachttopf auf die Gasse.
Nun musste Norbert Melanie doch so dreckig begegnen, wie er war. Nicht einmal das Gesicht hatte er sich abgespült. Die Selbstverständlichkeit der Harfenspielerin hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er ärgerte sich, dass er sich so überrumpeln lassen hatte. In dieser Stadt, in der ein Mann und eine Frau nicht Hand in Hand auf der Gasse gehen, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit küssen durften, in der es verpönt war, dass unverheiratete Paare sich trafen, weswegen Melanie und Norbert Elenas Haus nur durch die Hintertür betreten konnten, in dieser Stadt, in der die Frommen eifersüchtig darüber wachten, dass niemand abfällig über ihren schrägen Glauben sprach, der sich um einen Mythos von einer Jungfrau und einem weißen Hirschen drehte, hier in Altenweil hatte Norbert, gewohnt an die freien Sitten seines Heimatdorfs, sich immer für vorbildlich freizügig gehalten. Und heute früh war plötzlich er selber der Verklemmte! Es passte nicht in sein Bild von sich selbst. Er hätte ins Bad gehen sollen, ohne die Bardin weiter zu beachten, und hätte sich waschen sollen, wie sie vorgeschlagen hatte. Aber was wäre gewesen, wenn sein Körper auf ihre Nacktheit reagiert hätte? Es wäre ihm unendlich peinlich gewesen.
Als er durch die Lücke zwischen zwei Häusern in den Hof hinter Elenas Haus trat, drängte er die miteinander hadernden Gedanken beiseite. Mit klopfendem Herzen schaute er zu dem schiefen Fachwerkhaus hinüber. Im kleinen Fenster im Obergeschoss brannte kein Licht. Er legte die Hand an den Schwertgriff. In den dunklen Hinterhofecken waren nur noch schwache Regungen jenseitiger Schatten wahrnehmbar. Norbert holte Luft und schritt über den Hof zur Hintertür. Sein Herz begann zu rasen, als er anklopfte.
Nur einen Atemzug später wurde die Tür geöffnet. Die bucklige Alte im Türrahmen blickte Norbert seltsam sanft aus ihrem runzligen Gesicht an. Mutter Elenas Haar war wirr und ihr Lumpenkleid roch schlecht wie immer.
„Kommst die alte Elena besuchen, guter Junge. Komm herein,“ raunte sie.
„Ist Melanie da?“ fragte Norbert hastig.
Er hatte jetzt nicht den Nerv, sich darüber zu wundern, warum sie nicht war, wie sonst. Norbert kannte sie nur als halb verrückte, kichernde Hexe mit schalkhaft blitzenden Augen. Die Alte drehte sich um und humpelte in den dunklen Flur zurück.
„Wirst's gleich erfahren,“ murmelte sie.