Schatten der Anderwelt. Thomas Hoffmann
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Bei der Erwähnung von Ruth bekam er einen Kloß im Hals. Ruth war tot. Erschlagen von seinem Schwert. Er bezwang die Schuldgefühle, die ihn überkamen.
Mit belegter Stimme erklärte er: „Erst vorgestern ist mir die Flucht gelungen.“
Es war nur die halbe Wahrheit. Er wollte Lonnie nicht erwähnen. Gordon und Sarah wussten ohnehin von ihr.
„Erzähl uns mehr darüber, Junge,“ forderte der weißhaarige Alte, aber Gordon winkte ab.
„Nein, du bist müde und abgekämpft, Norbert. Morgen Abend kannst du mehr berichten, wenn du willst. Aber heute ruhe dich aus. Selbstverständlich übernachtest du hier.“
Der einäugige Wirt blickte Norbert fest an.
„Quäle dich nicht wegen dem, was dir widerfahren ist. Du hast Großes geleistet.“
Gordons Worte waren Balsam für Norberts von Schuldgefühlen und Horrorträumen zermarterte Seele. Norbert fragte sich schon lange nicht mehr, wie der Wirt der Abenteurertaverne Zum schwarzen Raben es immer wieder zustande brachte, ihm mit wenigen Worten Mut zu machen, wenn er allen Mut verloren hatte. Er nickte und atmete durch.
„Ja. Danke für den Schlafplatz. Ich muss morgen vor Morgengrauen wieder los.“
Zweifelnd fragte Sarah: „Warum musst du wieder los? Wohin?“
Norbert blickte auf die Tischplatte.
„Heute ist doch Sterntag,“ druckste er. „Ich... ich war vorhin noch beim Haus der alten Elena. Ich dachte, vielleicht wartet Melanie auf mich in unserem Zimmer. Aber im Fenster war kein Licht. Morgen in der allerersten Dämmerung geh ich wieder hin, sobald die Dämonen um das Haus herum sich verzogen haben. Wenn Melanie das Licht vorhin schon gelöscht hatte, treffe ich sie noch, bevor sie zu ihrer Dienstherrschaft zurückgeht.“
„Halb Altenweil steht in Flammen und du denkst, deine Liebste hat nichts anderes im Kopf als euer Stelldichein?“ spottete Sarah.
„Aber der Feuerbrand war ja in der Unterstadt, nicht im Armenviertel, wo Elenas Haus steht,“ verteidigte sich Norbert.
Es fiel ihm gleich selber auf, dass es ziemlich dumm war, was er gesagt hatte. Sarah hätte gar nicht erst so höhnisch gucken brauchen.
Doch statt weiter zu spotten, wechselte sie das Thema: „Mark war ein paar Mal hier und hat nach dir gefragt.“
Bei der Erwähnung des jungen Kriegsknechts hellte sich Norberts trübe Stimmung auf.
„Wirklich, er war hier? Wie geht es... äh, ihm?“
Beinahe hätte er gefragt: Wie geht es euch beiden? Aber er wusste, dass Sarah es nicht dulden würde, wenn er die heimliche, unausgesprochene Sympathie der beiden füreinander ansprach. Doch wer weiß, vielleicht taten sie ja inzwischen gar nicht mehr so heimlich miteinander? Möglicherweise waren sie endlich ein Pärchen geworden. Er musste seinen besten Freund unbedingt fragen, wenn er ihn wiedersah.
Sarah antwortete wortkarg und ruppiger, als sie gemusst hätte: „Bisher hat er jedenfalls noch keinen Ärger beim Obristen bekommen, weil er hierherkommt.“
Die Bardin nahm ihr Harfenspiel wieder auf. Norbert blieb nicht mehr lange bei den Abenteurern sitzen. Gordon gab ihm einen Kerzenstumpen mit nach oben. Als Norbert die Stiege zum Obergeschoss hinaufstieg, perlten die Harfenklänge von unten aus dem Gastraum herauf ihm nach. Die dunkle, traurige Melodie wurde immer wieder durchbrochen von hellen Klängen, die Norbert an Sonne und mutige Wege denken ließen, als wollten die Klänge ihn erinnern, dass sein Weg weiterging, heraus aus Erschöpfung und Zerstörung, fernen, noch kaum greifbaren Zielen entgegen.
***
Mit dem brennenden Kerzenstumpen in der Hand ging er den Gang entlang zu dem Zimmer, das Gordon ihm zugeteilt hatte. Er war froh, dass es nicht dasselbe Zimmer war, in welchem er vor einem Jahr an seinem ersten Tag in Altenweil mit Sturmkind geschlafen hatte. Trotz allem, was sich seither ereignet hatte, hatte er das unbändige Mädchen nicht vergessen. Er würde sie nie vergessen.
Das Zimmer ging zum Hof hinaus. Den meisten Platz nahm das breite Bett gegenüber dem Wandkamin ein. In saubere Leinentücher eingeschlagene Decken waren über den mit Stroh gefüllten Bettkasten gebreitet. Der Kamin war kalt. Unter dem mit Pergament bespannten Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Ein Kerzenhalter stand auf dem Tisch. Norbert setzte den Kerzenstumpen hinein. Dann blickte er in den Schrank neben der Tür. Er war leer bis auf ein paar Decken. Norbert hatte nichts, was er in den Schrank hätte legen können. Die wenigen Sachen, die er besessen hatte, waren in Dreyfuß‘ Turm dem Feuer zum Opfer gefallen. Er besaß nichts, als was er auf dem Leib trug, dazu ein paar Kupfermünzen und das magische Schwert, eine Leihgabe seines Lehrmeisters. Jetzt konnte er es wohl als sein Erbstück betrachten.
Er gürtete das Schwert ab, öffnete die Lederjacke, setzte sich aufs Bett und starrte ins schwache Kerzenlicht. Der Turm niedergebrannt, sein Lehrmeister tot, die Unterstadt vom Feuer verwüstet. Überall hatte er Verzweifelte, Sterbende und Tote gesehen. Er war nicht der einzige, der alles verloren hatte. Aber das machte es nicht weniger schlimm. Wie sollte es weitergehen? Mit der Lehrstelle bei Anton Dreyfuß hatte er auch das Lehrgeld, seine einzige Einkommensquelle verloren. Wovon sollte er leben? Wovon das Zimmer bezahlen, das er für Melanie und sich bei Elena gemietet hatte? Und selbst Gordon würde ihm nicht ewig Kost und Schlafplatz für umsonst anbieten.
Melanie – wie sehr er sich nach ihr sehnte. Der Gedanke an sie hatte ihn am Leben gehalten in Darulans Hölle.
Hoffentlich war sie bei Elena. Hoffentlich hatte sie morgen früh noch ein kleines Bisschen Zeit für ihn. Wenn er sie nicht bei Elena traf, würde er zum Haus des Ratsherrn Hohenwart gehen, wo sie Dienstmagd war.
Mach dir keine Sorgen um mich, Melanie, dachte er. Ich habe dir doch gesagt, dass ich zu dir zurückkommen werde. Mein Leben lang!
Er zog die Lederjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und holte den Packen Schreibbögen unter dem Hemd hervor, den er Darulan gestohlen hatte. Den Halsanhänger von Sturmkind, den er unversehens mit hervorgezogen hatte, steckte er wieder unter sein Hemd. Er legte die zusammengefalteten, zerknitterten Seiten auf den Tisch. Er konnte nicht lesen, was Darulan darauf geschrieben hatte. Er hatte nie lesen gelernt. Die Blätter, von denen er hoffte, dass darauf die Worte des Zauberrituals der Lebensmagie standen, hatte er seinem Lehrmeister bringen wollen. Mit ihnen, davon war Norbert überzeugt, wäre Dreyfuß an dem Vorhaben, das Telluk wahnsinnig genannt hatte, nicht gescheitert. Der Turm stünde noch. Die Unterstadt wäre nicht in Flammen aufgegangen. Dreyfuß wäre noch am Leben. Und die Banshee, die sein Meister ins Leben zurückholen gewollt hatte... es war ein abstruses Experiment mit kaum vorhersehbarem Ausgang gewesen. Wäre Norbert eine Woche früher zurück gewesen...
Norbert selbst hatte den Zaubergesang auswendig gelernt. Und hatte er nicht selbst Ungeheuerliches damit vor? Aber er hatte einen Schwur getan. Er hatte Lonnie versprochen, ihr zu helfen.
Er zog Stiefel, Wolljacke und die ledernen Hosen aus, löschte das Licht und kroch im Hemd unter die Bettdecken. Nachtlicht sickerte durch das Pergamentfenster herein. Er blickte ins Dunkel am Bettende gegenüber dem Fenster. Halb erwartete er, dort ein leises