Schatten der Anderwelt. Thomas Hoffmann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Schatten der Anderwelt - Thomas Hoffmann страница 7
Langsam zog Norbert sich rückwärts zur Tür zurück. Mit zwei Sprüngen war er durch den Flur und zur Hintertür hinaus in den Hof. Hastig durchquerte er den Hof und zwängte sich durch die Lücke in die Gasse.
Auf der Gasse blieb er keuchend stehen. Leute mit Handkarren und leeren Getreidesäcken in den Armen machten einen Bogen um ihn, während sie an ihm vorbei in Richtung Marktplatz zogen. Irgendwo bellte die Stimme eines Kriegsknechts. Die geschundene Stadt erwachte.
Norbert hatte die Faust noch immer um den Schwertgriff gekrampft. Langsam ließ er los. Ihm war schwindlig. All die vergangenen Tage hatte er sich nicht so elend gefühlt. Die Worte der Hexe hatten eine taube Leere in seinem Schädel hinterlassen. Er rang seine Verzweiflung nieder und holte Luft. Vielleicht hatte die Alte gelogen. Er musste sich Gewissheit verschaffen. An Kolonnen mit Schubkarren und Sackleinen vorbei machte er sich auf zum Haus des Ratsherrn Hohenwart.
***
Über die gepflasterte Gasse zwischen Klostermauer und Rathaus betrat Norbert den Marktplatz. Hier in der Nähe der Brandzone war der Geruch nach kaltem Rauch stärker. Ein leichter Wind wirbelte Aschenflocken von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus den Brandruinen herüber. Der Markt hallte wider vom Weinen und Klagen aus der Brandzone entkommener Unterstadtbewohner, vom Stöhnen Verwundeter und Sterbender. Überall drängten sich obdachlos gewordene Familien und Hausgemeinschaften. Wo an anderen Tagen Marktstände sich dicht an dicht aneinanderreihten, hockten Angehörige bei schwerverletzten Verbrannten. Andere kauerten mit zerrauften Haaren um Gestorbene. Mönche in sauberen, weißen Kutten gingen umher, beteten über den Verwundeten, verbanden Wunden und salbten diejenigen Toten, deren Familien das Salböl bezahlen konnten. Die Kriegsknechte standen dabei und warteten, bis die Mönche ihre Rituale beendet hatten. Sie schlugen die Toten in Sackleinen und fuhren die Leichen auf Handkarren über die Torgasse aus der Stadt, begleitet von weinenden und schreienden Hinterbliebenen.
An der Vorderseite des Rathauses und an stattlichen Kaufmannshäusern vorbei bog Norbert in die obere Torgasse ein. Er hatte keine Augen für das Elend auf dem Marktplatz. Er kämpfte darum, sich nicht von seiner eigenen Verzweiflung lähmen zu lassen. Die ängstlichen, ehrfürchtigen oder scheuen Blicke, die ihm folgten, beachtete er nicht.
Von einer Gruppe Hausmägde, die auf der Gasse Neuigkeiten und Schreckensgeschichten austauschten, erfragte er den Weg zum Haus des Ratsherrn Hohenwart. Gesichter und Kleider der Mägde waren sauber. Einzig ihre Mienen waren gezeichnet von der durchgestandenen Angst, das Feuer könne sich auf die Häuser der Oberstadt ausbreiten, gar auf diejenigen ihrer Dienstherrschaften. Jetzt standen sie auf der Gasse und gaben sich den Gruselgefühlen über das Grauen hin, von dem sie verschont geblieben waren. Die Mägde blickten Norbert nach.
„Ist das nicht Norbert Lederer?“
„Der das Dämonenfeuer gebannt hat! Heilige Mutter, ich glaube, das war er!“
Das Haus des Ratsherrn Hohenwart überblickte einen gepflasterten Platz, der auf allen vier Seiten von zwei- und dreistöckigen Bürgerhäusern gesäumt wurde. Norbert ging an der breiten Freitreppe vorbei und durch die Toreinfahrt in den Hof. Auf der Schwelle des Küchenausgangs saß ein zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen in einem graubraunen Mägdekleid und streichelte eine Katze, der sie eine Schale Milch hingestellt hatte.
Norbert fühlte sich, als hätte er einen Mühlstein um den Hals, als er zwischen über den Hof rennenden Hühnern hindurch zur Küchentür ging. Die Kleine starrte mit großen Augen auf sein Schwert, dann blickte sie scheu zur Seite. Norbert fand kaum seine Sprache. Er musste schlucken.
„Ist Melanie da?“
Das Mädchen blickte ihn überrascht an und schaute schnell wieder weg.
„Die Melanie ist doch mit dem Kaufmann, dem Ulf Jörgsohn nach Stegersting gegangen,“ antwortete sie mit rotem Kopf. „Ich wär schon auch mit ihm gegangen, wenn er mich gewollt hätte, aber mich hat er nicht mal angeschaut.“
Norbert spürte seine Hoffnung zerbrechen. Die Augen begannen ihm zu brennen - wie vom schwelenden Docht einer erlöschenden Kerze.
„Was tratschst du da für dummes Zeug, Sabinchen!“ rief eine Frauenstimme aus der Küche.
Die gut genährte Frau, die in der Küchentür erschien, hatte eine weiße Schürze umgebunden. Auf dem Kopf trug sie die flachsfarbene Haube einer Magd. Sie stemmte die Hände in die Hüften.
„Was sitzt du hier müßig herum? Warte nur, eines Tages erzähl ich der Hohenwarterin, dass du Milch stiehlst und sie der Katze gibst!“
Das Mädchen sprang auf, aber statt irgendwo zu verschwinden, blieb sie auf dem Fleck stehen.
„Melanies Freund ist gekommen,“ sagte sie wie zur Entschuldigung.
Die Magd betrachtete Norbert mit in die Hüften gestemmten Armen.
„So? Also du bist Melanies arme, alte Großtante, zu der sie jeden Sterntag Abend gegangen ist, um ihr den Haushalt zu machen und bei ihr zu übernachten?“
Norbert ging auf den Spott und das Gezanke der Küchenmagd nicht ein. In der tauben Leere, die die Nachricht von Melanies Weggang in seinem Kopf hinterlassen hatte, suchte er nach der Spur eines Weges, einem Faden, den entlang er sein Leben wieder aufnehmen konnte.
„Wie lange ist sie schon fort?“ fragte er, um überhaupt etwas zu sagen.
Die Augen in dem vollwangigen Gesicht der Magd waren sanft, trotz ihres burschikosen Auftretens. Sie deutete mit dem Kopf ins Haus.
„Komm in die Küche. Schluss mit dem Getratsche mitten auf dem Hof.“
Der Küchenraum hatte gekachelte Wände. Der Fußboden war gefliest. Ein großes Fenster neben dem gusseisernen Herd sorgte für frische Luft. Küchentisch, Stühle und Schränke waren weiß angestrichen. Die längs der Wände gestapelten Töpfe, Pfannen und Küchengeräte waren blitzsauber. Zu anderen Zeiten hätte die Einrichtung dieser Küche Norbert, der noch nie die Küche eines Herrenhauses betreten hatte, in Erstaunen versetzt. Jetzt registrierte er seine Umgebung ohne jedes Interesse. Er fühlte sich, als wäre er gar nicht hier.
Am Küchentisch saß ein beleibter Mittfünfziger in einer braunen Kapuzenjacke aus gutem Stoff vor einer Schale Grütze und einem Teller Rührei mit Speck. Sein schütteres graues Haar war zerrauft, das Gesicht mit den Hängewangen sah müde aus. Er blickte kurz auf, als Norbert die Küche betrat, widmete sich aber gleich wieder seinem Frühstück. Die Küchenmagd - Norbert vermutete, dass sie die Köchin war - stellte Norbert einen Pott heißen Kaffee auf den Tisch.
„Da, setz dich, nimm einen Schluck.“
Sabinchen schlich sich durch die Küchentür herein und lauschte stumm. Norbert setzte sich dem Mittfünfziger gegenüber und nahm aus Höflichkeit einen Schluck Kaffee.
„Ja, die Melanie, das blonde Schönchen, hat den Fang ihres Lebens gemacht, scheint's,“ erzählte die Köchin. „Als dieser Jörgsohn aus Stegersting hier ankam, um den Ratsherrn zu besuchen und ein paar Tage zu bleiben – der Ratsherr und er waren früher Weggefährten, als der Herr Hohenwarth noch auf Handelsreisen, wie es so schön heißt, durch die Lande zog, bis er zu Reichtum kam – als dieser alte Reisekamerad den gnädigen Herrn jetzt hier besuchte, selber steinreich geworden, da hat die Melanie ihm so schöne Augen gemacht – und sie hat's nicht nur bei süßen Blicken belassen, glaub's mir! - dass er sich in sie verguckt