Schatten der Anderwelt. Thomas Hoffmann

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Schatten der Anderwelt - Thomas Hoffmann

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Alter schiefen Fachwerkhäusern hindurch. Die Reepschläger, die die Arbeit an den langen Bahnen wieder aufgenommen hatten, da der Stadtbrand gelöscht war, nahmen kaum Notiz von ihm. Norbert war froh darüber.

      An einer Häuserecke, an der zwei Gassen im spitzen Winkel in die Reeperbahn einmündeten, standen Holzbänke am Brettertisch eines Ausschanks. Junge Gesellen und Hausknechte saßen beim Pausenimbiss. Sie hatten bereits mehrere Stunden Tagesarbeit hinter sich. Norbert setzte sich ans Ende der Bank. Der Schankwirt, ein graubärtiger Alter in schmieriger Schürze mit ungewaschenen Händen und dreckigen Fingernägeln brachte dünnes Bier, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Seine Stimme war kratzig.

      „Willst du Schmalzbrot zum Frühstück?“

      Norbert schüttelte den Kopf. Der Wirt wischte seine Hände an der Schürze ab und ging zum Tresen zurück, um weiter Brote zu schmieren. Es würden noch genug Hungrige kommen.

      Eine Armeslänge von Norbert unterhielten sich zwei Handwerkerburschen.

      „Heute früh in der Torgasse haben sie zwei Diebe gelyncht. Aus dem Hinterhof von einem der Häuser, in denen die Markgrafenknechte alles kurz und klein geschlagen und die Räume unter Wasser gesetzt haben, haben sie die Diebe auf die Gasse gezerrt und mit Latten und Schürhaken totgeschlagen. Brave Städter, Handwerkermeister, Ladenbesitzer, sogar ein paar Weiber waren dabei. Haben die beiden geschrien! So weit ist es mit Altenweil gekommen, Karl!“

      Sein Zuhörer stupste den Burschen an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Norbert. Beide starrten Norbert an. Norbert blickte mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bierhumpen. Der Handwerkerbursche nickte seinem Gesellen zu und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf. Norbert registrierte es erleichtert.

      Das lauwarme Bier schmeckte schal. Es war Norbert egal. Er trank den Humpen aus und winkte dem Wirt, einen zweiten zu bringen. Der Wirt stellte einen Teller Schmalzstullen neben das Bier. Im Schmalz waren die Abdrücke seiner Daumen zu sehen. Norbert kaute die Stullen, ohne recht zu merken, dass er aß. Er fühlte sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.

      Hatte es Sinn, in Altenweil zu bleiben? Vielleicht sollte er sich den fahrenden Abenteurern anschließen, die in Gordons Schänke abgestiegen waren, und mit einigen von ihnen mitziehen - irgendwohin, wo er jemanden fand, der ihm beibrachte, ein heiliges Schwert zu führen. Dreyfuß hatte gemeint, nur mit einem solchen könne er den Dämon, der sein Heimatdorf vernichtet hatte, erschlagen: die schwarze Dame der Grotte. Der Schmied auf der Grafenburg konnte mit heiligen Schwertern umgehen. Aber er verlangte zwanzig Goldtaler, um Norbert als Lehrjungen anzunehmen. Wo um alles in der Welt hätte Norbert diese Summe hernehmen sollen?

       Ich hätte schon vor einem Jahr mit Sturmkind ziehen sollen und der Gruppe, mit der sie herumzog. Sie hatten mich doch gefragt. Warum habe ich es nicht getan?

      Der gierige Blick der alten Elena kam ihm ins Gedächtnis, als sie Darulans Zettel an sich riss... Dann musste er an Lonnie denken. Wegen ihr hatte er sich auf diese Höllenfahrt an den Rand des Laendorgebirges begeben. Darulan glaubte, mithilfe des schwarzmagischen Ritualgesangs wäre es möglich, das untote Mädchen ins Leben zurückzuholen. Norbert hatte Elena nicht gesagt, dass der Zauber nur wirkte, wenn Darulans Mischung der neun magischen Kräuter dazu verbrannt wurde. Er hatte Darulan die Kräutermischung gestohlen. Lonnies Geist hatte sie ihm weggerissen, damit er nicht der Sucht nach der schwarzen Magie verfiel...

      Norbert schloss die Augen. Wenn es ihm nicht gelang, das Geistermädchen zu retten, war alles umsonst gewesen. Irgendwo in den mörderischen Gefilden der Anderwelt befand sich ihr „Quellort“ - ihr Seelenfunke, wie Darulan es genannt hatte. Dort musste er die Magie des Lebens wirken. Es wäre Blut vonnöten, hatte Darulan gemeint. Menschenblut am ehesten...

      Norbert stand auf und zahlte dem Wirt drei Viertelkreuzer für Bier und Brot. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Er schlug den Weg zur unteren Torgasse ein, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Brandzone um die Turmruine breitete.

      ***

      In den Häusern längs der Torgasse gegenüber der Brandzone sammelten die Bewohner ihre spärliche verbliebene Habe und noch brauchbaren Hausrat aus den Möbeltrümmern in den Hinterhöfen zusammen. In vielen Häusern waren die Herdfeuer bereits wieder entfacht. Auf der Gasse nagelten Männer improvisierte Brettertüren und Fensterläden zusammen. Über allem lag eine Atmosphäre der Verzweiflung, die durch das Weinen und Schluchzen der Frauen und Kinder, der Alten und Jungen, welche die Leichenkarren zum Tor begleiteten, noch verstärkt wurde.

      Ein Händler vor seinem zerschlagenen und ausgeplünderten Laden machte seiner Wut Luft: „Was die Flammen dank der Gebete der Mönche verschont haben, das haben die Markgrafenknechte, dieses Kriegsgesindel, zertrümmert und ersäuft! Ist Altenweil durch das Feuer noch nicht genug geschunden worden, dass dieses Lumpenpack wüten musste wie die Horgaren? Ausgepeitscht, erhängt, ersäuft gehört dieses Pack!“

      Die Kriegsknechte bei den Leichenkarren verrichteten weiter ihre Knochenarbeit, den zweiten Tag nun schon, ohne von dem schreienden Ladenbesitzer Notiz zu nehmen. Ihren müden Gesichtern war nicht anzusehen, was sie dachten.

      Zwischen den Leichenkarren hindurch überquerte Norbert die Gasse. Wolken von Aschenflocken wirbelten in der Luft. Vor Norbert breitete sich die Brandzone: ein Bereich verkohlter Trümmer zwischen aufragenden Schornsteinschloten. Außer einer dicken Ascheschicht war nichts von den eng beieinanderstehenden Fachwerkbauten geblieben. Von dem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Rundturm des Anton Dreyfuß stand nur noch die Erdgeschossmauer, stellenweise noch Teile des ersten Stocks. Eine hohle Fensteröffnung gähnte wie zum Spott über die einstige Macht des gefürchteten Dämonologen.

      Die Turmruine stand auf einer vormals dicht bebauten Anhöhe. Norbert stieg den schwarzen Mauerresten des Turms entgegen. Als er den düsteren Turm in seinem achten Lebensjahr zum ersten Mal gesehen hatte, hatte das Doppelbild des Turms auf der anderen Seite der Grenze ihm den Eindruck erweckt, der Turm stehe unmöglich schief. Das Dachgeschoss des Turms war umgeben gewesen vom fahlblauen, unwirklichen Licht der Anderwelt. Jetzt wirbelten Aschenwolken um die verkohlten Mauerreste. Norbert strengte seine Sinne an. Nirgends konnte er den Hauch der Anderwelt wahrnehmen.

      Die Turmpforte war ein leerer Schlund. Die Rundmauer rings umher, selbst die ausgetretenen Stufen zur Pforte hinauf waren mit einer dicken Rußschicht überzogen. Norbert tastete nach seinem Schwert und konzentrierte sich auf einen Abwehrzauber. Hier war es, wo er gestern die rasende Banshee bekämpft hatte. Blaues Anderweltfeuer hatte aus der Turmpforte gelodert. Jetzt trübten nur wirbelnde Aschenwolken die Tageshelle um den Turm. Kein jenseitiges Dunkel verdrängte das Licht.

      Zögernd stieg Norbert die Stufen hinauf zu der gähnenden Pforte.

      „Rhe!“ murmelte er den Abwehrzauber, als er ins Turminnere blickte.

      Keine Spur von Anderweltleuchten schimmerte auf. Stumm starrte Norbert auf die Verwüstung.

      Decke und Boden des Erdgeschosses waren weggebrochen. Wo einst Küche, Verwalterkammer und die steinerne Wendeltreppe in die oberen Geschosse sich befunden waren, gähnte ein nur von der geschwärzten Turmmauer begrenztes Loch. Tageslicht fiel von oberhalb der zerbrochenen Mauerreste herein. Aschenflocken wirbelten in den Resten der Rundmauer. Eine Manneslänge unter Norbert ragten von der Hitze gekrümmte, zu Kohle verglühte Balkentrümmer aus einer geschmolzenen und wieder erstarrten Masse, die aussah, wie trübes Glas. Die Schmelzmasse füllte das gesamte Fundament der Ruine.

      Wie betäubt nahm Norbert das Ausmaß der Zerstörung wahr. Dort unten, von den Flammen verzehrt und von der Hitze zusammengeschmolzen, befand sich, was von der Einrichtung und

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