Schaum-Welt-Komfort. Paul-Heinz Schwan
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Insgesamt wurde somit der Ernst zwar neu verteilt. Dennoch liegt auf den modernen Theorien und den Theorien der Moderne der lange Schatten des (Materie-) Substanzdenkens, das dem "zufällig auftretenden" -dem Akzidentiellen- so wenig Geschmack abgewinnt.
Sowie Ernst Bloch dem Tagtraum seine Würde als utopische Potenz und wirklichkeit-setzende Projektmacht verlieh, so müsste sich die Schaumdeutung als politische Ontologie der animierten Binnen-Räume konstituieren. In ihr würde das Zerbrechlichste als das Herzstück des Wirklichen begriffen. Wenn der Nachweis gelänge, dass das Schaumartige das Zukunftsträchtige sein kann, zeugungsmächtig ist, wäre dem substanzialistischen Vorurteil die Grundlage entzogen. Eben dies wird im Band III unternommen.
Das weltalterlang Verächtlich-Gemachte, das scheinbar Frivole, das nur auf seine Implosion hin Existierende gewänne seinen Anteil an der Definition des Realen zurück. Man begreift dann: Das Schwebende ist Grundgebendes der besonderen Art; das Hohle eine Erfülltheit eigenen Rechts; das Fragile als Ort und Modus des Wirklichen zu bedenken; das Unwiederholbare gegenüber dem Seriellen das höhere Phänomen. Aber: ein „wesentlicher Schaum“? geht denn das?
Fruchtbare Schäume – Mythologisches Zwischenspiel
Sobald man vor die Epoche volksontologisch und substanzmetaphysisch motivierter Schaumverachtung zurückgeht, zeigt sich die Relevanz der Figur des „fruchtbaren Schaums“.
Hesiod hat um 700 vor Christus, in der Erzählung von der Schaumgeburt der Göttin Aphrodite, die Liaison von Schaumgeburt und generativer Potenz für die westliche Überlieferung unvergesslich gemacht. Dem Dichter gelingt das Denkbild eines Schaums, dem nicht nur Formkraft zukommt, sondern auch Geburtsfähigkeit und generative Wirksamkeit zu Schönem, Reizvollem, Vollendetem.
Auch im altindischen Mythos vom Beschluss der himmlischen den Ozean durch Verquirlung zum Schäumen zu bringen, um daraus den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen. In den indischen Erzählungen wird deutlich, dass sie eine Handlung präsentieren der unter alchemistischen Zügen ein unverkennbarer Produktions -charakter zukommt: aus der Erzeugung aus Schaum tritt die Erzeugung von Schaum hervor. Die Analogie zur Butterzubereitung drängt sich hier auf – zumal in einer Kultur die Gussspenden aus Butter ins Opferfeuer zur Götterehrung einbrachte.
Das Lufteinschlagen in die Substanz dient der Ausfällung des Substanziellen aus der Substanz. In dieser ersten Theorie wird man den magischen Zugriff auf das Wesen des Wesens wagen, um die Macht aus der Macht herauszufiltern.
Auch der ägyptische Schöpfungsmythos kannte das Bild eines kosmischen Speichelschaums. Der Mund des Gottes Atum wird als erster Regungsherd oder Urgefäß bezeichnet in dem Feuchtigkeit und Luft erzeugt und ineinander verschränkt wurden, bis beides den Mund verließ, um alle weiteren Kreaturen hervorzubringen.
Nicht erste Unterscheidungen und „Es-werde-Befehle“ kamen aus dem Göttermund, sondern eine schaumige, bimaterielle prima materia.
Immerhin bereiten solche Ansätze von ferne her einen Begriff von Aphrogenie vor, der ermutigt, nicht nur nach Göttererzeugung zu fragen, sondern auch nach einer Mensch-entstehung aus Luftigem, Schwebendem, Gemischtem, Inspirierten. Es bleibt im folgenden zu zeigen, dass Schaum -in einem zu konsolidierendem Sinne des Wortes- die Matrix der humanen Tatsache insgesamt bildet. Wir sind der Stoff, aus dem die Schäume gemacht sind.
Naturschäume, Aphrosphären
Im physikalischen Kontext versteht man unter Schäume Vielkammersysteme von Gaseinschlüssen in feste und flüssige Materialien, deren Zellen durch filmartige Wände voneinander getrennt sind. Der belgische Physiker Joseph Antoine Ferdinand Plateau formulierte wichtige bis heute anerkannte Gesetze für die Geometrie der Schäume die ein Minimum an Ordnung in das scheinbare Chaos schaumartiger Blasenansammlungen trugen.
Die Ecken werden durch drei exakte Filmwände gebildet; je zwei davon bilden einen Winkel von 120 Grad; genau vier Ecken konvergieren in einem Punkt. Die Existenz von Seifenhäuten beruht auf eine Oberflächenspannung des Wassers die schon von da Vinci festgehalten wurde. Der Brite Ch.Vernun Boys stellte die optischen Eigenschaften von nassen und trockenen Schäumen in einer Farbenlehre dar. Dadurch zogen die Wunder des Regenbogens in viktorianische Kinderzimmer.
Im 20. Jhdt trat die Zeit in die Analyse des Schaums ein. Wir lernten, dass Schäume Prozesse sind und dass im Inneren des Vielzellenchaos unaufhörliche Sprünge, Umschichtungen und Reformatierungen geschehen. Diese Unruhe hat eine Richtung – sie führt zu höherer Stabilität und Inklusivität. In diesem aktiven Fachwerk aus labil-stabilen großen Polyedern kann potenziell keine einzige Zelle mehr platzen, ohne das Gesamtgebilde mit ins Nichts zu nehmen.
In dieser tragischen Geometrie ist zwischen den übriggebliebenen ko-isolierten Räumen eine so hohes Maß an Binnenspannung oder Tensigrität erreicht, das ihr gemeinsames Existenzrisiko durch eine Kofragilitätsformel ausgedrückt werden kann. In diesen Schäumen gibt es keine Mittelpunktzelle. In den Raumtheorien der Physik und für Prozesse von galaktischem, ja kosmischem Ausmaß hat das Vielkammern-System und die Schaum-Metapher Karriere gemacht.
Das 21. Jhdt kündigt sich als das century of the foam, als Jahrhundert des Schaums an. Das Thema kommt in immer mehr Wissenschaften zum tragen, aber keine billigt der morphologischen Potenz des Schaums eine größere Rolle zu als die Zell-Biologie. Für sie ist die Entstehung des Lebens aktuell eine „spontane Schaumbildung“. Nach ihr bildeten sich in der Frühzeit der noch unbelebten Erde blasenförmige Hohlräume und sorgten für eine Trennung von Innen und Außen. Sonnenenergie, die durch die Tröpfchen floß führte zu den Gebilden, die lebendige Zellen wurden.
Sie bilden nach der Sprechweise der systemischen Biologie „halboffene Systeme“, die selbst- und umweltsensitive Reaktionsräume prozessieren. Das Geheimnis des Lebens ist mit dem Raum-, dem Sphärengeheimnis eng verbunden. Die Geschichte des Organischen beginnt als Verdichtung und Verkapselung: Unter kugelförmigen Membranen sammelt sich das Mehr, das Leben heißen wird. Der Raum ist unterwegs zum Selbst, das gegen Äußeres Position einnehmen kann. Eigensinn an unerwarteter Stelle.
Sollte schon beim primitivsten Leben der geheimnisvolle Weg nach innen führen?
Humanschäume
Diese Seite des Schaumes beginnt für Sloterdijk mit dem Eintritt in anthropologische und kulturtheoretische Kontexte. Damit ist im Wesentlichen der Zeitabschnitt gemeint, in dem sich das alteuropäische Weltbild der einen Kugel, des einen Gottes, einem von ihm gewollten weltlichen Herrscher mit dem einen für alle und jeden „zugewiesenen“ unverrückbaren Platz abnutzt und aus vielerlei Entwicklungen in ein neues Zeitalter übergeht das man nun „die Moderne“ nennen wird und an dessen Ufern wir heute nach über 500 Jahren stehen. Bald schon spricht man nicht mehr vom Kosmos, vom König-Reich und einer gottgewollten Ordnung, sondern vom Staat, den Bürgern, den „Gesellschaften“.
Die Versammlung der zahllosen (eigen-) (endo)kosmischen „Seifenblasen“ (s. die Einstiegsgeschichte in Band I) ist also nicht mehr als der Monokosmos der Metaphysik zu denken, in dem die Fülle des Seienden unter einem allgemeinsamen Logos zusammengerufen wurden.
An die Stelle der philosophischen Über-Seifenblase, der All-Monade der Einen-Welt, dem zentrischen Delirium, tritt eine polykosmische Agglomeration, eine Versammlung von Versammlern als semi-opaker Schaum aus weltbildenden Raumkonstruktionen.
Also Systeme oder Aggregate von