Eine Frage der Macht. Hermann Brünjes
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Ich habe es übernommen, einige Interviews wegen Himmelfahrt zu führen. Es wird ähnlich laufen wie ich es bei den anderen Feiertagen gemacht habe: Ein Fachgespräch mit unserem Pastor, Befragungen von jungen Leuten im christlichen Tagungshaus und von Gemeindegliedern. Natürlich wird es auch um den »Vatertag« gehen, um Bollerwagen, Saufen und Flugschau. Ansprechpartner dafür finde ich mehr als genug – und wenn mir doch noch jemand fehlt, interviewe ich meinen Kollegen Steini als Bollerwagenexperten.
Beginnen werde ich allerdings mit der Wolfsthematik. Da »brennt es« gewissermaßen.
Noch heute Morgen beim Bäcker war ich Zeuge einer Auseinandersetzung wegen einer Meldung im Radio. »Sie haben schon wieder einen Wolf geschossen!« meinte Axel, unser Sportwart. »Die sollte man umgehend einbuchten!« Jan, ein mir recht unsympathischer Feuerwehrkamerad, konterte: »Nee, denen sollte man einen Orden verleihen! Die sehen den Wolf und knallen ihn ab. So muss es sein. Der Wolf gehört hier nicht her!« Die brünette Bedienung schüttelte mit den Kopf. »Jan, was redest du da? Du kannst doch nicht alles abknallen, was hier nicht hergehört!« »Wieso denn nicht? Wenigstens vergrämen oder wie sie das nennen, ist doch angesagt. Das gilt für Flüchtlinge aus dem Süden genauso wie für Wölfe aus dem Osten.« »Du solltest dich bei Konstantin und seiner DZP bewerben, Jan. Kannst ihm den Koffer tragen und die Drecksarbeit machen.«
Wie das Gespräch ausging, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Es begann, als ich schon an der Kasse stand und den Laden gerade verlassen wollte. Im Nachhinein war es falsch, dass ich ohne ein Wort gegangen bin. Sonst mische ich mich gerne ein – allemal, wenn es um derartige Themen geht. Das Thema »Wölfe« polarisiert zumindest hier in der Region jedenfalls genauso wie das Thema »Flüchtlinge«. Ich finde, es wird sogar noch kontroverser und aggressiver diskutiert. Flüchtlinge gibt es seit der Welle 2015 kaum bei uns auf den Dörfern. Wölfe umso mehr.
Die Fronten sind klar. Tierschützer, darunter auffällig viele Hundeliebhaber, freuen sich über die Rückkehr der Wölfe und wollen sie um jeden Preis schützen. Schafzüchter und andere Weidetierhalter verlieren durch Wölfe viele ihrer Tiere und haben durch Schutzmaßnahmen extrem hohe Kosten. Sie wollen die Wölfe loswerden. Auch ohne Interviews der verschiedenen Gruppen kenne ich inzwischen die Argumente. Einen Mittelweg lehnen viele kategorisch ab. Danach allerdings suchen die meisten Politiker und Bürger der Region. Mit Wölfen leben, deren Vermehrung jedoch kontrollieren und sie von Nutztieren und Menschen fernhalten – dass dies nicht gerade einfach ist, liegt auf der Hand. Inzwischen gibt es etwa 350 Wölfe in Niedersachsen. Das sind sieben bis acht auf tausend Quadratkilometer. In Kanada sind es nur sechs und in Russland nur ein einziger Wolf auf der gleichen Fläche.
Die Konflikte sind also vorprogrammiert und es wundert mich nicht, dass inzwischen bereits hunderte von Artikeln und Leserbriefen zu diesem Thema allein in unserer Kreiszeitung abgedruckt wurden.
Nun jedoch eskaliert die Sache: Wilderer dezimieren den Wolfsbestand, wie es aussieht, systematisch – oder sie setzen zumindest »Zeichen« für ihre Position. Die Gegenseite steht dem nicht nach. Militante Tierschützer fackeln Hochsitze ab und greifen Jäger an, wenn sie jemanden verdächtigen, die geschützten Wölfe zu schießen. Die Politik macht, was sie immer tut: Man redet, streitet und verhandelt.
Der strenge Schutz des Wolfes im Bundes- und EU-Recht macht den Umgang mit dem Raubtier besonders schwierig. Während sich bei uns in der Heide die Wölfe fröhlich vermehren und sich an den nur unzureichend geschützten Weidetierbüffets gütlich tun, spielt das Thema in der »großen Politik« kaum eine Rolle. Auf der »kleinen« politischen Bühne allerdings eskaliert der Streit vor Ort.
Ich recherchiere wie immer zunächst im Internet. Andere europäische Länder regulieren ihre Wolfspopulation. In Schweden werden 300, in Frankreich 500 erwachsene Tiere akzeptiert. Danach wird »entnommen«, also abgeschossen. Mir erscheint das logisch. Eine Zeit lang macht ein radikaler Schutz Sinn, dann nicht mehr. Es wird interessant, die Wahlkandidaten unserer Region zum Umgang mit dem Wolf zu befragen.
Für heute jedenfalls ist es genug.
Auf meinem Schreibtisch liegen diverse Zettel mit Stichworten und Zahlen zum Thema Wolf. Telefonisch treffe ich noch eine Verabredung mit einem Schäfer, der auch Gründungsmitglied von »wolfsfreie Dörfer« ist. Zu dieser als Verein organisierten Initiative gehören vor allem Weidetierhalter, aber auch Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten und Touristiker, die Angst haben, dass Gäste und Urlauber ausbleiben, weil sie sich nicht mehr in die Wälder trauen.
Jedenfalls gehe ich vorbereitet in die Gespräche und weiteren Recherchen.
*
Mein treuer Golf IV schnurrt über die Landstraße. Auch heute Nachmittag wütet das Sturmtief. Schauer und Wolkenlücken wechseln sich ab. Irgendwie hat das was. Die regennasse Asphaltdecke dampft unter plötzlich kräftigen Sonnenstrahlen. Kurz darauf prallen dicke Regentropfen auf den schwarzen Belag. Bevor sie sich in die abwärts fließenden Wasserströme einfügen, hüpfen sie noch einmal in die Höhe. Ich muss kurzzeitig langsamer fahren, um Aquaplaning zu vermeiden.
Rechts und links liegen Felder, weiter hinten Wald. Die Kartoffeln sind gepflanzt. In manchen der Furchen fließt das Wasser in kleinen, immer reißender werdenden Strömen gen Senke. Es ist hügelig. Manche Felder präsentieren sich in sattem Grün, andere sind noch braun, doch frisch gepflügt und gedrillt. Am Wegrand blühen Schlehen und Felsenbirne. Birken, Buchen, Erlen und andere Bäume und Büsche tragen helles Grün. Schwarz recken alte Eichen ihr noch winterliches Geäst in den Himmel. Das große zusammenhängende Waldgebiet im Hintergrund und jene Region, durch die jetzt fahre, heißt »Süsing«. Irgendwo dort hat man die erschossenen Wölfe gefunden. Ich durchfahre den kleinen Nachbarort und komme an den mit Maibäumen dekorierten Gebäuden eines beliebten Bekleidungs- und Schuhladens vorbei. Kurz darauf tauche ich ins Waldgebiet ein. Zu Beginn erinnert mich die Landschaft an den Schwarzwald: Hohe Nadelbäume, Hügel und Abbrüche, die man fast als Schluchten bezeichnen kann. Bis auf 110 m erheben sich hier eiszeitliche Verschiebungen. Später bleibt es hügelig, wirkt jedoch weniger schroff. Nadel- und Mischwald wechseln. Gelegentlich gibt es Weiden oder Äcker. Außer einer kleinen Straße nach rechts geht es über zwölf Kilometer geradeaus, immer durch Wald. Der Sturm ist hier weniger zu spüren. Allerdings liegen immer wieder kleinere Äste auf der Straße, teils mit frischen Blättern.
Nach knapp dreißig Minuten passiere ich das Zentrum von Lüneburg mit der St. Johanniskirche. Nördlich davon liegt das große Verwaltungsgebäude der Stadt, in dem auch die Polizei untergebracht ist. Ich frage mich durch. Schorses Büro würde ich inzwischen finden, das von Inspektor Hansen liegt in einem anderen Stockwerk. Irgendwo lese ich »Dezernat Einbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung«. Vielleicht zählen auch Wölfe juristisch immer noch zu den Sachen und ein Abschuss fällt unter Sachbeschädigung. Mit fünf Minuten Verspätung klopfe ich an die Tür mit Hansens Namensschild.
»Herein.«
Das Büro vor mir ähnelt dem von Schorse. Der Ausblick auf die hohen Bäume am Flüsschen Ilmenau ist ähnlich. An den kräftig bewegten Trauerweiden und hin und her wankenden großen Buchen sieht man deutlich, wie die Sturmböen den Bäumen zusetzen. Anders sind Stil und Ordnung des Büros. Es ist aufgeräumt, wirkt strukturiert und organisiert. Auf dem Schreibtisch aus Nussbaum liegen neben einem Flachbildschirm und einer Tastatur nur drei oder vier Aktendeckel, zwei Stifte und eine FFP-Maske.
Der Inspektor begrüßt mich mit Handschlag. Er sehnt sich, wie die meisten von uns, offensichtlich