Eine Frage der Macht. Hermann Brünjes
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»Ja. Es ist mir peinlich. Aber er wollte dann auch bei den nächsten Wölfen immer alles als Erster wissen. Patrik Ka-linowski heißt er.«
Wir wissen beide, dass Hansen sich damit kurz vor Ende seiner Dienstzeit keinen guten Dienst erwiesen hat. Das sage ich ihm auch, nehme ihm jedoch die Angst, diese Indiskretion zu melden. Im Gegenzug verspricht er mir, sich bei weiteren Vorfällen zuerst bei mir zu melden. So ist das Mediengeschäft: Wer zuerst an die Infos kommt, vermarktet sie. Unsere Fragen bezüglich der schnellen Pressemeldungen sind also geklärt. Die »gute Vernetzung« der Lüneburger besteht in diesem Fall schlicht in verwandtschaftlichen Kontakten zwischen Presse und Polizei und ich kann mir den geplanten Besuch bei der Konkurrenz und dem eifrigen Kollegen Kalinowski ersparen.
Als ich gehe, bin ich im Bild:
Die Ermittlungen wurden vermutlich ohne besonderen Eifer durchgeführt. DNA und Obduktion der Wölfe wurden dem Wolfsberater und dem Labor in Berlin überlassen. Die Polizei hat die Berichte abgeheftet, sie aber vermutlich nicht ausgewertet. Von Inspektor Hansen habe ich den Eindruck, dass auch er die Wölfe in unseren Wäldern und Kulturlandschaften für fehl am Platz hält. Vielleicht hat ihn auch das in seinem Eifer ausgebremst, abgesehen von seiner sinkenden Vorruhestandsmotivation.
Der oder die Täter waren klug und haben Hinweise wie leere Patronenhülsen und andere Spuren beseitigt oder vermieden. Sie haben die Wölfe allerdings nicht nur erschossen, sondern auch präsentiert. Was bedeutet: Die Tiere sollten gefunden und damit sollte folglich ein Zeichen gesetzt werden. Welches, ist klar: Keine Wölfe in der Heide. Abschuss frei!
Im Januar fand man den ersten erschossenen Kadaver, einen älteren Rüden. Ende Februar folgte eine trächtige Fähe, direkt nach Ostern ein junger Rüde. Das letzte »Zeichen« war dann ein Jährling. Ihn fand man vorgestern, kurz vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes. Ob das von Bedeutung ist? Vielleicht geht es auch um ein Zeichen an die Politik.
*
Auch als ich zurückfahre, regnet und stürmt es noch. Ich konzentriere mich auf die nasse Straße. Immer wieder jedoch gleitet mein Blick zum Waldrand. Hier leben Wölfe. Unsere Wälder sind nicht mehr so harmlos und ungefährlich wie vor Jahren noch.
Etwa 130 Rudel der Raubtiere sind in Deutschland registriert, 30 davon leben allein in der Heide. Ich versuche, die Bäume mit Blicken zu durchdringen. Irgendwo dort drinnen...
Viele der Tiere wurden bereits Opfer im Straßenverkehr. Auf dieser Straße fährt Maren fast täglich zur Arbeit. Im Schichtdienst als Krankenschwester muss sie oft auch nachts hier durch. Ich bin froh, dass sie bisher weder einen Wolfs- noch einen anderen Wildunfall hatte.
Ich fahre jetzt lieber etwas langsamer.
Freitag, 6. Mai
Das Wetter hat sich beruhigt. Wie gut, denn heute habe ich etwas Besonderes vor! Der Schäfer Jörg Bauer hat mich eingeladen, dem Beginn seines jährlichen Herdentriebs zu den Elbdeichen beizuwohnen. »Wenn Sie morgen nicht kommen«, hat er gestern am Telefon gesagt »bin ich die nächsten sechs Tage nur noch am Handy zu erreichen. Wir sind auf Wanderschaft und siedeln an die Elbdeiche um.«
Ich schnappe mir mein geliebtes Stevens-Rad und verlasse Himmelstal gen Süden. Auf der schmalen, ansteigenden Landstraße kommt mir eine riesige Schafherde entgegen. Sie nimmt die gesamte Breite der Straße ein. Es folgen drei Fahrzeuge, die nicht an den vielen blökenden Wollknäueln vorbeikommen. Schnell steige ich vom Fahrrad.
Was ich vor mir sehe, wirkt wie eine Szene aus einem Heimatfilm: Der Schäfer geht vorweg, neben sich einen seiner Hunde. Die wuscheligen Schafe folgen ihm. Manche haben schwarze Köpfe und Beine, andere sind einfarbig beige. Sie alle blöken und drängeln in gleicher Weise. Einige Lämmer, darunter auch schwarze, hüpfen ungeduldig herum. Hinten sehe ich einen weiteren Schäferhund. Er treibt die Herde an und holt Nachzügler aus dem Straßengraben.
»Na, Sie sind dann ja wohl der Reporter!«
Der Schäfer begrüßt mich freundlich mit einer tiefen und irgendwie beruhigenden Stimme. Er ist in meinem Alter, also Anfang sechzig. Unter einer Art Cowboyhut schauen graue Haare hervor. Schon der erste Blick in sein Gesicht lässt einen Mann erkennen, der viel draußen ist und sich Wind und Wetter aussetzt. Ein etwas altmodisch anmutender dicker, dunkler Wollmantel schützt ihn vor Kälte und Wind. Feste Schnürstiefel und ein langer Stab in der Hand komplettieren das Bild des Heide-Schäfers aus dem Bilderbuch.
»Kommen Sie«, lädt er mich ein. »Schieben Sie ihr Rad und gehen ein Stück mit mir und meiner Truppe!«
Er lacht.
Das Fahrrad schiebend, gehe ich neben ihm. Ohne dass ich ihn etwas fragen muss, beginnt er zu erzählen. Vielleicht haben Menschen, die oft isoliert leben und mit sich allein sind, ja ein ganz besonderes Mitteilungsbedürfnis. Auf Jörg Bauer jedenfalls scheint dies zuzutreffen.
»Wir ziehen an die Elbdeiche bei Bleckede«, beginnt er. »Hier haben wir gerade den letzten Acker mit Gründünger abgefressen. Meine Leute und ich haben den Elektrozaun eingepackt, die trächtigen Schafe aussortiert und alles im Transporter verstaut.«
Er weist mit dem Daumen hinter sich. Ich folge der Geste und sehe den Lieferwagen, der, wie die zwei PKW, langsam hinter der Herde herrollt. Vorne sitzen zwei Männer und eine Frau. Die kurze Pause nutze ich für meine erste Frage.
»Das ist ja ganz schön weit. Und alles zu Fuß? Wie lange brauchen Sie denn bis zur Elbe? Und wie viele Schafe sind das hier überhaupt?«
Er lacht. »Na, das sind ja gleich mehrere Fragen auf einmal. Was schätzen Sie denn, wie viele Schafe sind es?«
Ich habe keine Ahnung und nenne einfach mal eine Zahl.
»Vierhundert?«
Wieder lacht er.
»Weit daneben. Es sind insgesamt 900 Tiere! Die laufen eng an eng. So sparen sie Energie und treiben sich gegenseitig an. Und bevor Sie wieder daneben liegen: Wir schaffen am Tag etwa zehn bis zwölf Kilometer, werden also fünf oder maximal sechs Tage unterwegs sein.«
»Und alle halten das durch?«
»Klar. Wer nicht, wird vom Transporter eingesammelt. Womöglich gehöre ich selbst auch dazu! Meine Hunde jedenfalls werden täglich ausgetauscht und trächtige oder schwache Tiere dürfen ebenfalls im Lazarettwagen mitfahren.«
»Und auf den Deichen bleiben die Schafe dann während des Sommers?«
»Richtig. Im Herbst geht es wieder zurück in die Heide, dann auf die abgeernteten Felder und Äcker rundherum und im Mai wieder zu den Deichen. Sie wissen ja: Ohne Schafe würde die Heide verkrauten, den Feldern fehlte Naturdünger und die Deiche würden von Wühlmäusen untergraben. Wir schützen also die Landschaften, sind den Bauern willkommen und sind auch für den Tourismus extrem wichtig. Sieht doch auch gut aus, unsere Präsentation, oder?«
Der Mann ist jedenfalls ein fröhlicher Zeitgenosse.
»Ich dachte, die Heide wird nicht von Schafen, sondern von Heidschnucken gepflegt.«
»Das stimmt. Da haben wir auch noch zwei Standorte. Die Schnucken, dazu einige Ziegen, bleiben das ganze Jahr über in der Heide. Vor allem ihnen ist zu verdanken, dass diese einzigartige Kulturlandschaft