Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram

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Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen - Kurt Aram gelbe Buchreihe

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Sekretär des deutschen Konsulats telefonierte. Wir gingen mit dem österreichischen Konsul zum deutschen Konsulat.

      Der Sekretär war höchst aufgeregt. Er glaubte sofort an den Krieg. Er bereitete alles vor, um das Konsulat zu schließen.

      Wir beeilten uns, nach Hause zu kommen. Auf dem Eriwan-Platz wurde die erste Kriegsmesse unter freiem Himmel gelesen. Zum ersten Mal erflehten hier russische Popen den Sieg für die russischen Waffen und Untergang und Verderben für Deutschland. Zum ersten Mal scholl vom Eriwan-Platz hinter uns drein die russische Nationalhymne mit ihrer inbrünstigen, choralartigen Weise.

      An den Ladentüren der deutschen Geschäfte auf dem Golowinskij-Prospekt standen die Inhaber und Angestellten mit bleichen Gesichtern. Aber keiner von allen glaubte an den Ernst der Lage. Sie alle waren unserer Ansicht: Stimmungsmache gegen die Deutschen.

      Es war Mittag und der Golowinskij-Prospekt wimmelte von Menschen. Sie hielten das Telegramm in Händen oder warfen es schon, spöttisch lächelnd, von sich. Ernst wurde hier die Sache auch nicht genommen.

      Dieselbe Stimmung herrschte im Hotel. Tragisch nahm man das Telegramm auch hier nicht. Weder die russischen Offiziere noch die ausländischen Zivilisten.

      Die Offiziere unterhielten sich mit uns, wir mit den beiden Engländern. In dem ersten Hotel von Tiflis trieb an diesem Tag die erste Nachricht von dem nahenden Unheil die Gäste der verschiedenen Nationalitäten nicht voneinander fort, sondern zueinander.

      Die beiden Engländer sahen zuweilen mit gespanntem Ernst in die Ferne wie auf ein ungeheuerliches Geschäft, das ihnen erst in flüchtigen Umrissen vor den Augen stand, und erwogen als kaltblütige Kaufleute die Chancen dieses Geschäftes.

      Wir Deutschen aber hatten rote Köpfe und dachten nur an eins: Wie komme ich raus nach Deutschland?

      Ehe wir uns dessen versahen, saßen wir Deutschen alle zusammen an einem Tisch: Frau Richter mit ihren Söhnen, der bayrische Ingenieur mit seiner Frau, ich und meine Frau. Dazu kamen bald noch Deutsche aus der Stadt. Was tun? Nur einer von uns war noch militärpflichtig. Aber wir alle wollten nach Deutschland und uns zur Verfügung stellen. Zu irgendetwas würde doch jeder von uns in dem bevorstehenden Riesenkampf gut sein. Also galt es packen und für die Pässe sorgen. Und als es so weit war, atmeten wir alle erleichtert auf, die Muskeln strafften sich, die Augen blitzten. O, jetzt ging es nach Hause nach Deutschland.

      Und wieder saßen wir alle zusammen auf der Veranda des Hotels. Dunkel war es. Nur die Sterne leuchteten über der leise rauschenden Kura.

      An einem Nachbartisch saßen die beiden Engländer. Nicht weit davon der amerikanische Missionar mit seiner Tochter, den die ganze Sache nichts anzugehen schien. Noch weiter fort russische Offiziere mit Lärmen und Lachen.

      Zum ersten Mal empfanden wir: Wir sind von Feinden umgeben und müssen vorsichtig sein. Wir unterhielten uns nur leise miteinander. Wir zeigten äußerlich möglichst unbewegte Mienen. Aber in uns kochte es und war wilder Tatendrang.

      Da, alles verstummt und lauscht in die Nacht. Was ist das? Wie ferner Gesang klingt es in das Rauschen der Kura. Es kommt näher und näher. Die russische Nationalhymne, feierlich, inbrünstig. Manifestanten singen sie und durchziehen die Stadt. Ich schleiche mich zum Hoteleingang, wo die Manifestanten vorbeikommen. Fünfzig halbwüchsige Burschen, denen ein Polizist das Zarenbild voranträgt.

      Ich eile zur Veranda zurück. Der Gesang kommt jetzt von der Kurabrücke her. Wie auf Verabredung heben wir die Gläser mit Rheinwein und leeren das Glas. Sagen, was wir denken, dürfen wir nicht. Aber wir denken: Deutschland, Deutschland über alles!

Grafik 51

      Deutsche Infanteristen 1914

      Am anderen Morgen schon in der Frühe zum österreichischen Konsul. Ich habe meinen Pass immer noch nicht. Er soll mir raten und helfen.

      In der Amtsstube sitzt eine strahlende deutsche Mutter mit ihren zwei Söhnen. Der ältere, etwa neunzehnjährig, strahlt auch über das ganze Gesicht. Der jüngere, etwa sechzehnjährig, heult jämmerlich. Die Mutter meldet ihren Ältesten zum Militärdienst nach Deutschland. Deshalb strahlen die beiden so. Dem Jüngsten hat der Konsul eben gesagt, es könne gar keine Rede davon sein, dass er eingestellt würde. Deshalb heult er so jämmerlich. Mich durchzuckt es, und auch der Konsul ist sichtlich bewegt, trotzdem er sein glattrasiertes Gesicht gut in der Gewalt hat.

      Es erscheinen andere Deutsche. Sie melden sich ebenfalls. Sie wollen alle dasselbe: einen Pass nach Deutschland.

      Der arme Konsul, er befindet sich in einer schwierigen Lage. Er weiß ja offiziell durchaus nichts davon, dass Krieg ist. Er kann auch nichts Bestimmtes darüber erfahren. Er kann gar nichts anderes tun, als die Leute auf später vertrösten und sie bitten, nächstens wieder zu kommen, nachdem er sie an das deutsche Konsulat verwiesen hat.

      Mir verspricht er natürlich auch, das seine zu tun, damit ich meine Pässe zurückerhalte. Aber er ahnte wohl damals schon, dass es damit nichts werden würde.

      Vom Konsulat begebe ich mich zur Bank. Da man auf so einer Reise nicht mehr bares Geld mitnimmt, als unbedingt nötig ist, so hatte ich mein Hauptgeld nach Wan überweisen lassen. Da ich aber jetzt nicht mehr nach Wan wollte, sondern nach Deutschland, musste ich versuchen, ob ich nicht durch die Tifliser Bank mein Geld aus Wan erhalten könne. Auf der Bank riet man mir, sofort nach Wan um Überweisung des Geldes nach Tiflis zu telegraphieren. Man wollte das sogar selbst für mich besorgen und bat zu dem Zweck um meinen Depotschein. Ich zeigte ihn zwar, gab ihn aber nicht aus den Händen. Die Leute waren selbst für russische Verhältnisse etwas gar zu liebenswürdig. Ich wurde misstrauisch und wollte mich erst noch anderswo erkundigen.

      Mein Misstrauen war berechtigt. Hätte ich dem Rat der Bank gefolgt, wäre ich das Geld losgeworden, denn sie zahlte schon wenige Tage nach der Kriegserklärung an Reichsdeutsche nichts mehr aus. Nicht einmal der österreichische Konsul konnte in den Besitz ihm überwiesener Gelder gelangen.

      Die Ereignisse der allernächsten Zeit überstürzten sich dermaßen, dass ich ihrer chronologischen Reihenfolge nicht mehr sicher bin. Ich machte mir zwar sofort Aufzeichnungen, auf Grund deren ich alles der Reihenfolge nach erzählen könnte, aber diese Aufzeichnungen musste ich später vernichten. Ich vermag jetzt also nur noch die Haupteindrücke wiederzugeben.

      Gegen Mittag komme ich in das Restaurant unseres Hotels und bleibe unwillkürlich an der Türe stehen. Mitten im Restaurant steht ein Herr entblößten Hauptes. Um ihn her russische Offiziere mit ernsten Gesichtern. Der Herr liest das soeben eingelaufene Manifest des Zaren vor, wonach Deutschland das unschuldige Lämmlein Russland hinterrücks mit Krieg überfallen hat. Nach der Verlesung erst tiefes Schweigen, dann die Nationalhymne ...

      Höchste Zeit für uns alle, nach Hause, nach Deutschland zu kommen. Alle Deutschen im Kaukasus fühlen das und strömen in Tiflis zusammen. Hier befindet sich ja das einzige deutsche Berufskonsulat im Kaukasus. Es ist doch dazu da, den Deutschen zu helfen...

      Ein junger, intelligenter deutscher Vorarbeiter erscheint im Hotel als Abgesandter von einem Dutzend, die in der Nähe von Batum in Arbeit sind. Er soll vom Konsulat Auslandspässe für sie alle besorgen. Er lacht über das ganze junge Gesicht vor Freude, dass es endlich losgeht. Alle zwölf Kameraden sind reisefertig wie er. Nur fort. Er eilt zum Konsul, kommt bald wieder und ist verzweifelt, weil der Konsul nicht helfen kann. Er eilt zur Bahn, um wieder nach Batum zu fahren und mit den Zwölfen auszurücken. Kaum ist er aus dem Hotel, stürzt Polizei in das Restaurant, die den jungen Deutschen sucht. Wir wissen natürlich nichts. Eine Stunde später ist der junge Mann wieder da,

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