Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram

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Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen - Kurt Aram gelbe Buchreihe

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den deutschen Soldaten geworden? Überall werden sie zurückgeschlagen. In Ostpreußen wird schon eine russische Verwaltung eingesetzt.

Grafik 54

      Rennenkampff in Insterburg in Ostpreußen

      Ein Herr mit dem echt russischen Namen Müller soll diese Verwaltung leiten, und in einem Interview erklärt er, dass er alle europäischen Sprachen spreche, aber in Ostpreußen nur Russisch sprechen werde, damit sich die Deutschen dort gleich an die neue Heimat gewöhnen und erkennen, mit Deutsch ist es ganz und gar nichts mehr.

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      Paul von Rennenkampff

      Rennenkampf steht schon dicht bei Berlin. Die Franzosen haben das ganze Elsass besetzt. England hat die deutsche Handelsflotte ruiniert und bei Helgoland der deutschen Kriegsflotte eine schwere Niederlage beigebracht, von der sie sich nicht mehr erholen wird. Man rechnet stündlich damit, dass englische Kriegsschiffe die Elbe hinauffahren und Hamburg bombardieren.

       Ein bisschen viel auf einmal für einen guten Deutschen. Das kann unmöglich wahr sein. Man greift doch wieder zu den Zeitungen und forscht zwischen den Zeilen nach der Wahrheit, da sie in ihnen einfach nicht stehen kann. Da, fett gedruckt im Petersburger Herold: der deutsche Kaiser hat hundert Sozialdemokraten erschießen lassen. Dann eine fette Notiz: Revolution und Hungersnot in Berlin. Unter den Linden ist es zu wilden Straßenkämpfen gekommen. Das Militär schoss auf die Tumultuanten, die gegen den Krieg demonstrierten. Hundert Tote blieben auf dem Platz ... Schon quält Hunger die Berliner Bevölkerung. Das Pfund Rindfleisch kostet in der Reichshauptstadt jetzt schon eine Mark.

      Ich zu meiner Frau: „Sag mal, weißt du noch, was wir im Frühjahr in Berlin für ein Pfund Rindfleisch bezahlt haben?“

      Meine Frau: „Natürlich, das weiß ich noch ziemlich genau, durchschnittlich eine Mark zwanzig.“

      Meine Frau glaubt, ich bin verrückt geworden, denn ich lache, dass mir die Tränen über die Backen laufen.

      Und ich werde wieder eifriger Zeitungsleser. Die Forts von Lüttich leisten immer noch tapferen Widerstand, aber die Deutschen sind in Brüssel. Das ist zwar ohne jede Bedeutung und braucht keine Beunruhigung hervorzurufen, denn es liegt durchaus im Kriegsplan der „Verbündeten“ ... Hm, na, schön, ich habe nichts dagegen.

Grafik 56

       Meldung aus Paris: Die französische Regierung verlässt Paris, weil der Stadtkommandant es so wünscht, und begibt sich nach Bordeaux. Langer Bericht, wie klug die Franzosen daran tun, und wie ehrlich von der Regierung, das vor aller Welt bekanntzugeben. Man sieht, was für eine moralische Wandlung mit der großen Nation vor sich gegangen ist. 1870 leider viele Lügenberichte, jetzt diese Ehrlichkeit. Eine völlige Neugeburt der französischen Nation. Sie geht sogar wieder in die Kirchen, die überfüllt sind ... Muss das allen russischen Herzen wohl tun...

      Von Ostpreußen hört man gar nichts mehr. Der echte Russe, Herr Müller, scheint seine Abreise nach Königsberg aufgeschoben zu haben. Da dürfte etwas dazwischen gekommen sein? Wenn man nur erfahren könnte, was?

      Auf meinem Zimmer erscheint gegen Abend wieder einmal ein Pristavstellvertreter, um wieder einmal ein Protokoll mit mir aufzunehmen. Es wäre einfacher, er schriebe die früheren Protokolle ab, denn mehr erfährt er doch nicht von mir, aber dazu kann er sich nicht entschließen. Auch hat ihm die Behörde noch besondere Aufträge gegeben. Er soll in Erfahrung bringen, ob ich politisch irgendwie verdächtig sei, ob ich schon im Zuchthaus gesessen habe, und ob ich für die Dauer des Krieges in Tiflis zu bleiben beabsichtige.

       Wie soll der arme Pristavstellvertreter nun die Wahrheit über mich erfahren, da mich niemand genauer kennt? Er kommt also direkt zu mir, dass ich sie ihm sage. Die Frau des jüngeren Sohnes vom Haus kommt mit, um den Dolmetsch spielen. Der Polizist bittet die Dame, da er nicht federgewandt sei, für ihn das Protokoll zu schreiben. Das geschieht, und die Dame nimmt zu Protokoll, dass ich politisch durchaus unverdächtig sei, nie im Zuchthaus gesessen habe und darum bäte, als nicht militärpflichtig und Mann von 45 Jahren ins Ausland abreisen zu dürfen. Dazu kommt dann noch das Gewohnte von früheren Protokollen her über meine archäologisch-chetitischen Interessen. Die Arbeit dauert anderthalb Stunden. Der Polizist sitzt zufrieden auf seinem Stuhl und raucht, meine Frau und ich sitzen um ihn herum und versorgen ihn immer wieder mit neuen Zigaretten. Die Dame des Hauses schreibt. Das Protokoll ist fertig. Aber es braucht nun noch drei Zeugen, die die Wahrheit der Aussagen durch ihre Unterschrift beglaubigen sollen. Woher nehmen? Wir holen einen Kellner aus dem Restaurant und zwei x-beliebige Leute von der Straße, die für zwei Rubel als Zeugen fungieren. Als somit alles in schönster Ordnung ist, fragt mich der Polizist nach dem jungen österreichisch-polnischen Privatdozenten aus. Ich weiß nichts und habe nichts über ihn zu berichten. Der Polizist will das nicht glauben. Er holt die Pässe von mir und meiner Frau hervor, die mit dem Pass des polnischen Ehepaars zusammengeheftet sind. Für ihn ein Beweis, dass die Behörde uns ebenfalls für gute Bekannte hält. Ich habe aber nichts über den Mann zu sagen, dem die Polizei erlaubt hat, sich in der Stadt eine billigere Wohnung zu nehmen, während sie mich zwingt, in dem teuren Hotel zu bleiben und vom Pump zu leben. Da wir nichts miteinander zu tun haben, bitte ich den Polizisten, das auch äußerlich dadurch kenntlich zu machen, dass er die Pässe voneinander trennt. Aber er tut es nicht...

      Wieder einmal wird es Nacht. Um diese Zeit pflegen sonst die wahren Patrioten mit dem Bild des Zaren durch die Straßen zu ziehen und die Nationalhymne zu singen. Seit einigen Tagen hört man sie nicht mehr. Der Statthalter hat es verboten. Die patriotische Manifestation machte auch einen gar zu kläglichen Eindruck. Auf mehr als fünfzig bis achtzig Bürschchen brachte sie es nie. Und die Zahl des lichtscheuen Gesindels wurde immer größer unter ihnen. Sie wollten nicht nur singen, sondern vor allem die deutschen Läden plündern. Aber man fürchtet, dass diese Analphabeten dabei auch französische Läden nicht würden schonen. Und so verbot man denn die Manifestationen überhaupt. Sicher ist sicher.

       Überhaupt ist das mit dem russischen Patriotismus in Transkaukasien so eine Sache. Die Russen sind in der Minderheit. Den Grusinern ist durchaus nicht zu trauen, wie sie bei der Revolution 1904/05 deutlich genug gezeigt haben. Die Armenier gebärden sich zwar als russische Überpatrioten, aber misstrauisch ist man auch ihnen gegenüber. Lieber gar keine patriotischen Manifestationen, als so klägliche, worüber die Grusiner längst lachen. Sonst kommen sie am Ende mit Gegenmanifestationen, und die russischen Behörden stecken, ehe sie sich dessen versehen, wieder mitten in einer Revolution. Die ganze mohammedanische Bevölkerung ist sowieso erregt, und man kann sich nicht auf sie verlassen. Der Kaukasus ist ein heißer Boden für russische Füße. Vorsicht ist geboten. Nur gegen die Jagd auf Deutsche ist nichts einzuwenden. Irgendwie muss sich doch der Patriotismus der echt russischen Leute Luft machen. Auch der Gouverneur hat es nötig, sich durch Gemeinheiten gegen die Deutschen als guter Patriot zu erweisen. Er ist Pole, hasst die Deutschen und hat es nicht schwer, sich von der besten russischen Seite zu zeigen. Der alte, grämliche, kränkliche Statthalter aber wäscht nach alterprobtem Rezept seine Hände in Unschuld. Er ist alt, er ist krank, er kann sich nicht kümmern um das, was der Gouverneur macht, dem er das Ressort über die Deutschen übertragen hat. Der arme kranke Mann!

      Mitten in der Nacht fahren wir beide jäh in die Höhe und lauschen. Was ist das? Wildes Schreien, Säbelrasseln und Schießen in nächster Nähe. Ich springe auf den Gang. In dem kleinen Hotelgarten eine Menge Offiziere, die brüllen, wild um sich stechen und mit den Pistolen schießen. Wir dachten nicht anders, als dass unser letztes Stündlein jetzt gekommen sei. Eine halbe Stunde dauerte der Lärm. Dann schweres Stöhnen und Ruhe ... Russische Offiziere hatten ein Sektgelage abgehalten. Eine Maus war ihnen über die Füße gelaufen. Ihr galt die wilde Jagd durch das Hotel und seinen Garten, die erst

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