Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen - Kurt Aram страница 6
Unser österreichisch-polnisches Ehepärchen hält sich fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer versteckt. Erst am Abend erscheinen die beiden und lustwandeln verstohlen, zärtlich aneinander geschmiegt, durch den kleinen Hotelgarten. Tagsüber fürchten sie sich und sehen von Tag zu Tag elender aus.
Großfürst Nikolai Nikolajewitsch
Erst als des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch (Nikolai Nikolajewitsch Romanow, auch Nikolai Nikolajewitsch der Jüngere genannt, ( russisch Николай Николаевич Романов, Николай Николаевич Младший; * 6. November jul. / 18. November 1856 greg. in Sankt Petersburg; † 6. Januar 1929 in Antibes) war ein russischer General und Großfürst aus der Zarenfamilie Romanow.) Aufruf an die Polen bekannt wird, atmen sie auf und fassen wieder Mut. Der Mann hat mir erklärt, er sei entschlossen, russischer Untertan zu werden. Wäre er nicht so schwächlich, hätte ich ihn geohrfeigt. So kehre ich ihm nur stumm den Rücken...
Acht Tage nach der ersten Protokollierung werden wir, der ältere Sohn des Hauses, der bayrische Hütteningenieur und ich, wieder aus dem Restaurant gerufen. Im Hoteleingang stehen sechs russische Infanteristen und ein Polizeioffizier mit zwei Polizisten. Als der Polizeioffizier uns sieht, kommandiert er barsch: „Hut auf! Mitkommen!“ Wir wollen unsere Frauen vorher verständigen. Man lässt es nicht zu. Also Hut auf und mit. Wir drei werden von den neun in die Mitte genommen und abgeführt. Wie Schwerverbrecher. Zu Fuß geht es in solchem Aufzug durch die Straßen zum zuständigen Polizeirevier. Die Sonne brennt beträchtlich.
Auf dem Revier treffen wir noch ein halbes Dutzend Deutsche, die genauso wie wir ohne jede Erklärung hierher transportiert worden sind. Auch die Polizei klärt uns nicht darüber auf. Wir stehen auf dem Gang herum und warten.
Es war noch nicht zehn Uhr, als wir eingeliefert wurden.
Um halb zwei werden wir, jetzt ein Dutzend Deutsche, vom Revier unter starker Bedeckung zum Polizeipräsidium eskortiert. Zum Gaudium der Russen führt der Weg durch die ganze Stadt. Nicht gerade ein angenehmes Spießrutenlaufen. Wir kommen an der Hauptwache vorbei, und der Zufall will es, dass gerade der jüngere Richter aus seinem vergitterten Fensterchen sieht, als sein älterer Bruder mit uns vorbeigetrieben wird.
Auf dem Polizeipräsidium heißt es zunächst wieder einmal: warten. Nach und nach kommen immer mehr Deutsche hinzu aus anderen Polizeirevieren. Es ist, als hätte die Tifliser Polizei heute Morgen durch die ganze Stadt eine Jagd auf Deutsche gemacht.
Endlich öffnet sich eine Tür, und die Deutschen werden einzeln hereingerufen. Ich bin einer der letzten. In dem Zimmer sitzt wieder ein Pristav und nimmt Protokolle auf. Ich wiederhole, was ich schon vor acht Tagen gesagt habe. Das Protokoll ist zu Ende, und ich will zu den andern Deutschen, die in einem Nebenraum versammelt sind, wie ich durch eine offenstehende Tür sehen kann. Der Pristav schreit mich an und weist mich zu einer andern Tür, hinter der ich verschwinde. In diesem Raum befindet sich außer mir noch ein Deutscher. Wir sehen uns an und sprechen miteinander. Haben wir etwas Besonderes verbrochen, dass wir von den andern abgesondert werden, oder was ist sonst los?
Noch ein Deutscher gesellt sich zu uns. Warten. Endlich erscheint ein Polizist und brüllt uns an: „Pascholl!“ (Raus!)
Wir also raus, und da uns niemand hindert, sich niemand um uns kümmert, verlassen wir das Polizeipräsidium. Und da sich die Polizei vor dem Tor auch nicht um uns kümmert, gehen wir eben nach Hause.
Aber wo bleiben die anderen, wo bleibt der bayrische Hütteningenieur, wo steckt der ältere Richter, der älteste Sohn unserer Hotelbesitzerin? Niemand weiß es. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.
Kaum im Hotel angekommen, stürzen die Frauen über mich her. Wo sind die Männer? Ich weiß es nicht. Was wird mit ihnen? Ich weiß es nicht. Wir telefonieren. An unser Revier. An das Polizeipräsidium. Die alte Frau Richter setzt sich mit den einflussreichsten Leuten in Verbindung. Sie verkehren ja alle in ihrem Hotel. Sie lebt ja schon dreißig Jahre in Tiflis und kennt jedermann, und jedermann respektiert sie. Keiner gibt ihr eine bestimmte Auskunft. Immer nur Ausreden, billige Ausflüchte und flüchtige Trostworte, die aber gar nicht ernst gemeint sind. Früher hatte sie so viel Einfluss. Jetzt ist das alles wie mit einem Ruck abgeschnitten, als wäre es nie gewesen.
Wilde Gerüchte gehen in der Stadt über die beiden Söhne der Frau Richter. Sie sind ja stadtbekannt wie die Mutter. Der eine soll gerade dabei erwischt worden sein, wie er russische Pläne auf die Post gab für Deutschland. Der andere soll Photographien russischer Befestigungen gesammelt und nach Berlin geschickt haben und dergleichen mehr, woran natürlich kein wahres Wort ist. Endlich gelingt es der Frau des jüngeren Sohnes, zum Stadtkommandanten vorzudringen. Endlich gelingt es der alten Dame, beim Statthalter, dem allmächtigen Grafen Woronzow-Daschkow, einem Günstling des Zaren, empfangen zu werden. Aber immer nur Ausflüchte und nichtssagende Redensarten ...
Außer den Offizieren ziehen sich die Russen immer mehr von dem Hotel zurück. Man beginnt, es zu meiden. Wenn aber einer einmal wiedererscheint, der sonst Stammgast hier war, vielleicht auch eine tüchtige Portion Schulden hier hat, dann kommt er nur, um die alte Dame zu quälen. Ob sie noch nicht wisse, dass ihr einer Sohn morgen gehängt werde? Oder er kondoliert direkt mit scheinbar teilnahmsvollem Gesicht, weil der eine Sohn gestern hingerichtet worden sei. Hat er seinen Zweck erreicht und die alte Dame der Verzweiflung nahegebracht, macht er sich schleunigst aus dem Staube.
Nun wagt sich jeder Neid wider das altangesehene Haus hervor und wird zur Niedertracht. Es ist ja jetzt patriotisch, sich gegen die Deutschen niederträchtig zu benehmen. Und gegen diese alte, harmlose Dame hat man dazu ja so einen prachtvollen Vorwand. Im russischen Klub wurde allgemein erzählt, dass im Hotel London ein ganzes Nest von deutschen Spionen auszuheben sei. Schon am Tage vor der Kriegserklärung hätten die Deutschen im Hotel London über den Krieg Bescheid gewusst und ein wüstes Sektgelage abgehalten, bei dem auf Kaiser Wilhelm Hochs ausgebracht und auf den Untergang Russlands die Gläser geleert wurden.
So sah jenes harmlose Sektfrühstück vom 2. August, von dem ich erzählte, jetzt aus. Und der eigentliche Urheber dieses Frühstücks, der eigentliche Veranlasser und Veranstalter der ganzen Tat, der Balte, der Russe, der Aristokrat, der Herr Baron Drachenfels, selbst Mitglied des russischen Klubs, er trat doch selbstverständlich als Ehrenmann gegen solche Gerüchte auf und legte den wahren Sachverhalt dar, denn er war doch der nächste dazu? Er dachte gar nicht daran. Er war zu feig, die Sache aufzuklären, und ließ es ruhig zu, dass unschuldige Frauen und wehrlose Männer darunter zu leiden hatten. Ja, er besaß sogar die perfide Frechheit, dem Direktor des Hüttenwerkes, bei dem der bayrische Ingenieur angestellt war, zu erklären, dieser habe das Frühstück arrangiert und sei nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, das Wohl des Deutschen Kaisers auszubringen. Auf Sekt habe er aber bestanden, und so sei es nur gelungen, dass dank seiner Vorstellungen wenigstens russischer Sekt getrunken wurde...
Jetzt bin ich der einzige Deutsche im Hotel London. Um mich her nur noch weinende, verzweifelte Frauen, denen Männer und Söhne fortgenommen waren. Niemand wusste damals, welchem Schicksal sie entgegengingen.
Eines Abends spät erscheint ein Gefängnisbeamter und gibt gegen hundert Rubel Auskunft über das Schicksal der Verhafteten. Wir erfahren, dass einige zwanzig, darunter der jüngere Sohn des Hauses, im Zuchthaus sitzen. Mit ihm auch der deutsche Konsul Dr. Anders. Wir erfahren, dass man 250 andere Deutsche, da die Zuchthäuser für sie