Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram
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Den Gefangenen in der Kaserne wurde es erlaubt, zu bestimmten Stunden am Nachmittag ihre Angehörigen zu empfangen. Sie durften den Männern Essen und wärmere Sachen für die nicht mehr heißen Nächte bringen. Sie brachten ihnen auch Geld.
Denen, die im Zuchthaus saßen, durfte man einmal in der Woche Essen bringen. Das Essen wurde von den Zuchthausbeamten in Empfang genommen. Ob die Gefangenen es auch wirklich erhielten, war nicht zu erfahren. Niemand durfte sie sehen oder sprechen.
Jene in der Kaserne durften wenigstens Abschied nehmen von ihren Angehörigen, als sie „verschickt“ wurden. Die im Zuchthaus haben bis auf diesen Tag nichts mehr von ihren Angehörigen zu sehen bekommen. Auch ihnen zu schreiben, war verboten.
Dabei hatten sie nicht mehr und nicht weniger verbrochen als die in der Kaserne Eingesperrten. Sie hatten ebenfalls nichts weiter verbrochen, als dass sie deutsche Reichsangehörige waren. Wir wissen das deshalb ganz genau, weil wir mit einigen dieser Zuchthäusler später in Sibirien zusammen waren und aus ihren Papieren zu ersehen war, dass auch gegen sie nichts weiter vorlag. Seit Kriegsausbruch ist jeder Reichsdeutsche, der auf russischem Staatsgebiet betroffen wurde, ein Verbrecher und wird als solcher behandelt. Ob dieser Verbrecher, bevor er „verschickt“ wird, im Zuchthaus sitzt oder anderswo, ist reine Zufallssache. War er vor Kriegsbeginn ein besonders angesehener Deutscher oder ein gefürchteter Konkurrent russischer Kaufleute, so hatte er gute Aussicht, zuerst ins Zuchthaus zu kommen. Kannte ihn niemand und kam er als Konkurrent nicht in Betracht, so hatte er einige Aussicht, in die Kaserne zu kommen. Das war neben dem reinen Zufall der einzige Gesichtspunkt, der deutlicher sichtbar wurde...
Zwei Tage nach Kriegsausbruch war die russische Mausefalle geschlossen. Kein Reichsdeutscher konnte ihr noch entkommen. Zunächst wurden alle Reichsdeutschen zwischen 20 und 45 Jahren eingefangen, eingesperrt und dann „verschickt“. Später verfuhr man auch mit den Deutschen vom 17. Lebensjahr bis zum 50. genauso. Ob gesund, ob krank, ob militärpflichtig, militärtauglich oder nicht, ob lahm oder blind, einerlei, es sind Reichsdeutsche, sie sind Verbrecher und werden nach Sibirien verschickt. Und im ganzen weiten russischen Reich erhob sich nirgends eine Stimme, die dagegen protestierte, die dies Verfahren der Regierung als das erkannte, was es war: nämlich eine perfide, niederträchtige Gemeinheit und nichts anderes. Aber es gab auch im weiten russischen Reich keinen Neutralen, weder einen Botschafter noch einen Konsul oder sonst etwas, der dagegen protestiert hätte. Und wir haben auch nie etwas davon gespürt, dass man in Deutschland irgendetwas Energisches gegen diese Gemeinheit unternahm. Wussten die Deutschen im Reich nicht, was mit ihren Brüdern in Russland geschah? Hatten die Deutschen im Reich vergessen, dass viele Tausende deutscher Landsleute in Russland das Los gemeiner Verbrecher tragen müssen, nur weil sie Deutsche sind und bleiben wollen? Hat man uns ganz und gar vergessen? Sind wir für unser Volk gar nichts mehr wert? Verlassen und wehrlos der russischen Niedertracht preisgegeben, bis wir in Sibirien erfroren, verhungert oder totgeschlagen sind?
So und nicht anders müssen viele Tausende deutscher Männer, junge und alte, in Sibirien denken.
* * *
An der Madatowskij-Insel
An der Madatowskij-Insel
Das Hotel London in Tiflis liegt hart an einem Seitenarm der Kura.
Kura-Fluss
Die Kura bildet hier eine Insel, die Madatowskij-Insel, über die die Nikolaibrücke führt. Von unserem Hotelzimmer sieht man über diese Insel die Altstadt langsam bis zur Bahn und den dahinter liegenden Hügeln, den letzten Ausläufern des hohen Kaukasus, emporklettern. Alte Häuschen mohammedanischen Stils. Dazwischen kleine Plätze, von denen die Sonne alles Grün abgefressen hat. Dahinter kahle, gelbe Hügel, die sich aus braun gebrannten Äckern und Wiesen erheben, auf denen der Sonnenbrand das letzte Leben getötet hat. Auf der Insel verwahrloste Hunde, die von Abend bis Morgen einen Heidenspektakel vollführen und tagsüber mit irgendwelchem stinkenden Raub herumliegen. Wie es früher in Konstantinopel war. In dem immer seichter werdenden Kura-Arm, der am Hotel vorbeifließt, tummeln sich am Nachmittag halb erwachsene Burschen der ärmeren Bevölkerung zusammen mit trächtigen Mutterschweinen, die ebenfalls im Wasser einige Kühlung suchen.
Dies die Aussicht von unserem Hotelfenster, die wir anderthalb Monate auszuhalten hatten, denn so lange war es mir verboten, das Hotel zu verlassen. Nur meine Frau durfte sich auf der Straße zeigen.
Wir starren aus dem Fenster zur Nikolaibrücke. In scharfem Trab kommt ein kleiner Wagen über die Brücke. Auf seinem Sitz thront eine Kiste. Rechts und links davon sitzen je zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr.
Vor dem Wagen ein berittener Kosak. Hinter ihm drei weitere Kosaken. Gleich muss es Mittag sein, denn kurz vor Mittag erscheint jeden Tag dieser kleine Wagen mit Staatsgeldern von der Bahn und fährt zur Reichsbank. Da steigt auch schon hoch oben am Berg ein blauweißes Wölkchen auf. Dann ein Kanonenschuss. Es ist Mittag.
Frühstück im Zimmer, denn in das Restaurant dürfen wir uns nicht mehr wagen.
Um Mittag haben wir jetzt durchschnittlich 35-40 Grad Hitze. Kein Lüftchen regt sich.
Wieder am Fenster. Über die Nikolaibrücke bewegt sich der halbe Orient. Perser auf kleinen Eseln, die Holzkohlen befördern. Mullahs in grünen oder weißen Turbanen. Schäbige Pferde mit Wasserschläuchen über den eingesunkenen Rücken und mit dicken Bäuchen, gezerrt von braungebrannten Kerlen, die zum Schutz gegen die Sonnenglut sich weiße Tücher seltsam über Kopf und Schulter geschlagen haben. Sie gleichen alten Ägyptern. Zerlumpte Tataren in Fellmützen. Eine Kosakenpatrouille. Aber nie Militär. Das wird nur nachts befördert, und dann meist auch nicht durch die Stadt, sondern auf weiten Umwegen um die Stadt herum.
Bunt, grell, abenteuerlich, orientalisch. Wie es Bodenstedt schon besungen hat. Aber sechs Wochen lang immer dasselbe und in unserer Verfassung, man wird immer ungeduldiger. Das Heimweh nach Deutschland wächst erst recht.
Man setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und greift zu den Zeitungen. Wir bekommen den „Temps“. Er schimpft auf allen Seiten, in allen Rubriken auf die barbarischen Deutschen und weiß in jeder Spalte neue Ungeheuerlichkeiten über deutsche Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten zu erzählen. Es stimmt nicht freundlicher.
Man nimmt den „Petersburger Herold“ vor, eine deutsche Zeitung. Man könnte geradeso gut die „Nowoje Wremja“ lesen. Dies Schandblatt deutscher Zunge ist nicht weniger gemein.
Meine Frau liest mir die Londoner „Times“ vor. Es ist einfach nicht zum Aushalten. Es ist, als atme man unausgesetzt Gift ein, sowie man eins dieser Blätter in die Hand nimmt. Man fühlt, mit der Zeit wird man verrückt darüber. Keine Zeitung darf mir mehr ins Zimmer. Nur noch die Telegramme des russischen Generalstabes.
Vier