Männerrock. Holger Hähle

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Männerrock - Holger Hähle страница 7

Автор:
Серия:
Издательство:
Männerrock - Holger Hähle

Скачать книгу

(Abb. 36). Das ist der ägyptische Kaftan, der anders als die gerade geschnittene saudische Thobe (Thawb) viel weiter ist und im unteren Schoßteil Falten wirft. Alle Teilnehmer des Ausflugs in die Wüste fanden das Kleid extrem bequem. Ich fühlte mich darin wie nackt, weil das Gefühl von dünnem Stoff, der den Körper flüchtig umspielt, so neu und erfrischend war. In der Wüstenhitze, das war die einstimmige Meinung, war der Kaftan durch seine Luftigkeit jeder Hose überlegen. Deswegen wusch ich am Abend das Kleid und zog es am nächsten Tag im Hotel am Frühstücksbuffett wieder an. Diesmal waren die Reaktionen ganz anders. Man wies mich lächelnd darauf hin, dass die Exkursion vorbei sei, und warum ich das noch nicht bemerkt habe. Andere Touristen fragten ironisch, ob ich zum Islamisten konvertiert sei. Niemand im Hotel konnte meine Kleiderwahl akzeptieren, obwohl alle am Tag davor in der Wüste die gleiche Kleidung anhatten. Man war halt wieder zurück im eigenen Kulturkreis, und da ist der Kaftan ein No-Go. Praktische Argumente, wie die Luftigkeit, die von allen geschätzt worden war, zählten nicht mehr. Man hatte wieder den gewohnten Normen zu folgen und riet dringend davon ab, beim Rückflug die Dschallabija anzuziehen, wenn ich nicht den Verdacht erwecken wolle, ein islamistischer Fundamentalist zu sein.

      Ich war sehr beeindruckt, wie krass der Unterschied zwischen einer praktischen Intention und der gesellschaftlichen Wahrnehmung war, die hier ja total neben den Fakten lag. Wie konnte ich so missverstanden werden?

      Mode ist, wie bereits erwähnt, nonverbale Kommunikation. Sie arbeitet mit kodierter Symbolik. Wenn ein Kleidungsstück aus anderen Gründen als den ihm zugeordneten benutzt wird, dann kommt es zwangsläufig zu Fehlinterpretationen. Und da Dresscodes jede Gesellschaft beherrschen, mag niemand an ein unschuldiges Verhalten wegen des heißen Sommerwetters denken.

      Es gibt keine gesellschaftlichen Normen ohne ein System von Maßnahmen, um unerwünschten Dresscode-Abweichungen entgegenzuwirken. Jede Gesellschaft ist selbsterhaltend strukturiert und setzt Restriktionen mit Sanktionen um. Soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung, Mobbing, Kündigung des Arbeitsplatzes oder körperliche Angriffe sind möglich. Wer etwas verändern will, sollte das beachten und an allen Stellschrauben der Struktur drehen.

      Veränderungen geschehen selten spektakulär oder gar revolutionär. Starke Brüche schrecken ab, weil sie zu sehr neben dem liegen, was uns geprägt hat. Veränderungen haben bessere Chancen sich durchzusetzen, wenn sie sich einschleichen als Variation von Bekanntem und nicht wirklich mit Gewohnheiten brechen, sondern es lediglich verfeinern oder erweitern.

      Bei jugendlichen Subkulturen kann der Bruch massiver sein, wenn er auf angestaute Unzufriedenheit zurückzuführen ist, die unterdrückt wurde. Die Menschen haben lange versucht sich konform zu verhalten, obwohl ihre Bedürfnisse und gesellschaftlichen Visionen weiterhin keine angemessene Beachtung fanden. Die enorme junge Energie, die Gesellschaft zu verändern, ist schwer kontrollierbar. Das gilt besonders, wenn sie als progressive Kraft auf eine konservative Gesellschaft trifft, die ihre Grundsätze vehement verteidigt.

      Wenn die Rollen, die wir öffentlich in der Schule, im Job, in der Familie, unter Freunden und anderswo spielen, stark von unserem privaten, inneren Ich abweichen, kann das unser Rollenspiel beeinflussen. Wenn es nachlässig wird und unsere Rolle nicht mehr überzeugt, kommt es zu negativen Bewertungen. Wiederholt sich der Eindruck über uns, führen die negativen Bewertungen zu Stigmatisierung.

      Gesellschaften stehen Veränderungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber. Das macht sie grundlegend konservativ. Man weiß nicht sicher, ob das Neue auch zu etwas Gutem führt. Da wird dann lieber auf Bewährtes vertraut, denn da weiß man was man hat. Da gibt es keine Risiken. Außerdem werden neue Forderungen junger Leute schnell als Angriff auf den Status Quo gewachsener Standards und seiner Autoritäten gesehen. Darauf reagieren die Vertreter der Ordnung sehr empfindlich.

      Trotzdem sind Verhaltensänderungen nicht zwangsläufig ein Angriff auf bestehende Wertvorstellungen. Eine US-amerikanische Studie zeigte, dass es zwischen gepiercten und nichtgepiercten Personen keine Unterschiede in Bezug auf ihre Religiosität, ausgedrückt in Kirchgängen und täglichen Gebeten, gab (11). Eine weitere Studie konnte auch keine Unterschiede in der Häufigkeit von Depressionen, Angststörungen, Psychopathologie, Vitalität, und Selbstbewusstsein belegen (12). Aber je jünger die Gepiercten waren, desto stärker war das Motiv zu einer bestimmten Subkultur und ihren Werten zu gehören (13).

      Der Lebenszyklus einer Mode beginnt, wenn innovative Menschen sich anders kleiden und diese Änderungen um sich greifen, weil progressive Menschen darauf aufmerksam werden und das Verhalten kopieren. Wenn diese beiden Gruppen, die im Marketing Early Innovators und Early Adaptors genannt werden, eine nennenswerte Präsenz erreichen, die statistisch je nach Produkt und Markt bei etwa 15 % Marktanteil liegt, dann erst traut sich auch die skeptische Masse nachzuziehen. Der sogenannte Tipping Point von 15 % löst ein dynamisches Verhalten aus, das aus einem Trend Mode machen kann Die meisten Menschen sind eher konservativ eingestellt. Sie wollen nicht der „Vorturner“ sein. Sie warten ab, wie sich eine Sache entwickelt, und erst wenn diese um sich greift, legen sie ihre Skepsis gegenüber dem Neuen ab. Trends sind kurzlebig, wenn sie nicht den kritischen Wendepunkt erreichen, an dem die neugierige aber skeptische Mehrheit zu kaufen beginnt. Zuerst muss die innovative Kraft eines Streetstyles ausreichend sein, so dass Mode- und Jugendmagazine regelmäßig darüber berichten. Dann erst folgt den Trendsettern die Mehrheit und es entsteht eine neue Mode (14).

      Im Rahmen ihrer Marktforschung nutzen Modehersteller Trendscouts, um Anregungen von der Straße und aus Jugendszenen aufzuspüren. Das digitale Trendscouting bedient sich der Nutzerdaten, die soziale Netzwerke und Suchmaschinen zur Verfügung stellen.

      Die meisten neuen Moden werden von Modemachern entworfen. Wenn Prominente sich darin kleiden, wirkt das stilbildend, weil die Kaufbereitschaft weiterer Menschen wächst. So haben Marlene Dietrich und Katharine Hepburn wesentlich dazu beigetragen, dass der Hosenanzug für Frauen ein Trend wurde. Yves Saint Laurent hat ihn dann stärker auf die weibliche Anatomie zugeschnitten, ohne dem Anzug seine Sachlichkeit zu nehmen. Die Feminisierung des Schnitts unter Beibehaltung der formalen Sachlichkeit war der Kompromiss, der die Brücke zu den Traditionalisten schlug. So gelang dem Hosenanzug langsam der Durchbruch.

      Immer mehr Frauen kauften die Anzüge, obwohl es ihnen anfangs bei vielen Gelegenheiten verboten war, Hosen zu tragen. Der Sängerin Esther Ofarim wurde 1966 der Zutritt im Hosenanzug zur Bar des Atlantic-Hotels in Hamburg verweigert. Der Frau des englischen Fliegerstars Townsend wurde 1969 der Zutritt in Hosen zur Filmpremiere „Die Luftschlacht um England“ im Londoner Ritz verwehrt. Bundestagsvizepräsident Richard Jäger (CSU) drohte 1970 öffentlich, jede Abgeordnete in Hosen des Saals zu verweisen. Noch im gleichen Jahr war es ein Skandal, als die SPD-Politikerin Lenelotte von Bothmer im deutschen Bundestag eine Rede im Hosenanzug hielt (15). Trotz der Widerstände wurde aus dem Trend eine Mode. Die wachsende Zahl der Frauen, die sich nicht einschüchtern ließen, machte den Hosenanzug gesellschaftsfähig. Dadurch ist Frauen das möglich geworden, was ihnen vorher unmöglich war. Sie konnten fortan zu formalen Anlässen statt eines Kostüms Hosen tragen. Viele Frauen in Führungspositionen, aber auch Politikerinnen wie die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen oder die US-amerikanische Vizepräsidentin Kamalla Harris treten ganz überwiegend öffentlich im Hosenanzug auf. Heute ist das selbstverständlich, früher war es ein Tabu. Seit 2012 dürfen auch die Polizistinnen der Royal Canadian Mounted Police zu allen Uniformen Hosen und Stiefel tragen. In Frankreich wurde 2013 ein altes Gesetz abgeschafft, das von Frauen, die zum Reiten oder Radfahren Hosen tragen wollten, verlangte, eine entsprechende Genehmigung zu beantragen (16).

      Wenn Abweichungen von modischen Standards Tabus berühren, kann das zu Sanktionen führen. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Amelia Bloomer versuchte in den 1850er Jahren, eine Reformkleidung für Frauen mit mehr

Скачать книгу