Lourdes. Emile Zola
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»Ich begleite eine Jugendfreundin, ein armes, krankes junges Mädchen«, sagte er seinerseits. »Ich empfehle sie Ihnen, Sie können sie vielleicht pflegen.«
Sie wurde etwas rot, und nun zweifelte er nicht mehr. Raymonde brachte die Rechnung in Ordnung mit der Sicherheit einer Person, die mit Zahlen umzugehen weiß. Frau Desagneaux führte Frau Volmar fort. Die Kellner verloren ihren Kopf vollständig, die Tische leerten sich und alles stürzte eilig davon, als man eine Glocke läuten hörte.
Auch Pierre beeilte sich, zu seinem Wagen zurückzukehren. Da wurde er von neuem aufgehalten.
»Ah, Herr Kurat!« rief er. »Ich habe Sie schon bei der Abfahrt gesehen, aber ich konnte leider nicht bis zu Ihnen gelangen, um Ihnen die Hand zu drücken.«
Er reichte einem alten Geistlichen von ehrwürdigem Aussehen die Hand, der ihn lächelnd betrachtete. Der Abbé Judaine war Kurat in Saligny, einer kleinen Gemeinde der Oise. Von großer und kräftiger Gestalt, hatte er ein breites, rotes, von weißen Locken umrahmtes Gesicht. Man fühlte es, daß er ein frommer Mann war, den weder das Fleisch noch der Verstand jemals gequält hatte. Von ruhiger Frömmigkeit, glaubte er fest und unerschütterlich, ohne jede Anfechtung mit dem bequemen Glauben eines Kindes, das keine Leidenschaft kennt. Nachdem ihn in Lourdes die Heilige Jungfrau von einem Augenleiden durch ein Wunder befreit hatte, von dem man noch jetzt sprach, war sein Glaube noch blinder und inniger geworden.
»Ich bin zufrieden, daß ich Sie hier bei uns sehe, mein junger Freund«, sagte er sanft, »weil die jungen Priester bei diesen Pilgerfahrten viel lernen können ... Man hat mir versichert, daß zuweilen unter ihnen ein aufrührerischer Geist herrsche. Nun, sie sehen, daß alle diese armen Leute hier beten gehen; das ist ein Schauspiel, das einem Tränen entlocken muß ... Und wie ist es möglich, daß man sich nicht Gott in die Hände gibt beim Anblick von so viel geheilten oder doch wenigstens gemilderten Leiden?«
Auch er begleitete eine Kranke. Er zeigte auf eine Abteilung erster Klasse: »Abbé Judaine, reserviert.« Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu:
»Wissen Sie, es ist Frau Dieulafay, die Frau des großen Bankiers. Ihr Schloß, ein wahrer Königssitz, gehört zu meinem Kirchspiele. Da sie wußten, daß die Heilige Jungfrau sich mir so außerordentlich gnädig erwiesen hatte, haben sie mich gebeten, für die arme Kranke Fürsprache einzulegen. Ich habe Messen gelesen, heiße Gelübde getan ... Sehen Sie, dort, auf der Erde! Sie hat durchaus gewollt, daß man sie einen Augenblick herausschaffen soll trotz der Mühe, die es kosten wird, sie wieder hineinzubringen.«
An einer schattigen Stelle des Perrons lag eine Frau, deren schönes Gesicht von reinem Oval mit wunderbaren Augen auf ein Alter von nicht mehr als sechsundzwanzig Jahren schließen ließ. Sie war von einer schrecklichen Krankheit befallen, dem Schwinden der kalkartigen Salze, das eine Erweichung des ganzen Knochengerüstes nach sich zog. Als sie vor drei Jahren mit einem toten Kinde niedergekommen war, verspürte sie unbestimmte Schmerzen in der Wirbelsäule. Dann waren die Knochen nach und nach dünn geworden und veränderten ihre Form, die Wirbelknochen wurden krumm, die Beckenknochen platt, die Arm und Beinknochen schrumpften zusammen, und so war sie wie zusammengeschmolzen zu einem kleinen Stückchen Mensch, das man nicht aufrecht setzen konnte, das man nur mit aller erdenklichen Sorgfalt transportieren durfte in der stetigen Angst, es durch die Finger entschlüpfen zu sehen. Der Kopf, der regungslos dalag, bewahrte seine Schönheit. Und diesen beklagenswerten Rest von einer Frau umgab ein verschwenderischer Luxus, der dem Beschauer das Herz noch mehr bedrückte: ihre Tragbahre war mit blauer Seide gepolstert, sie selbst war eingehüllt in kostbare Spitzen. Der Reichtum breitete sich noch über das Totenbett aus.
»Oh, welch ein Jammer!« begann der Abbé Judaine von neuem mit leiser Stimme, »sich sagen zu müssen, daß sie noch so jung, daß sie so reizend und so ungeheuer reich ist! Und wenn Sie wüßten, wie man sie liebt, mit welcher Verehrung man sie noch jetzt umgibt ... Der vornehme Herr, der bei ihr steht, ist ihr Gemahl, und dort die elegante Dame ist Frau Jousseur, ihre Schwester.«
Pierre erinnerte sich, den Namen der Frau Jousseur in den Zeitungen gelesen zu haben. Sie war die Gattin eines Diplomaten und spielte eine große Rolle in der vornehmen katholischen Welt in Paris. Sie war sehr hübsch, mit einer wunderbaren Einfachheit gekleidet und um ihre arme Schwester mit dem Ausdrucke der hingehendsten Aufopferung beschäftigt. Der Gatte, der vor kurzem das große Bankhaus seines Vaters geerbt hatte, war ein schöner, mit peinlicher Sorgfalt gekleideter Mann von fünfunddreißig Jahren, mit hellem Teint. Seine Augen schwammen in Tränen, denn er liebte seine Frau abgöttisch und hatte alle seine Geschäfte im Stich gelassen, da er seine Frau durchaus selbst hatte nach Lourdes bringen wollen. In diesen Anruf der göttlichen Barmherzigkeit setzte er seine letzte Hoffnung.
Pierre hatte viele entsetzliche Leiden gesehen in diesem schmerzensreichen weißen Zuge. Aber nichts erschütterte ihn so wie dieses jammervolle Frauenskelett, das sich mitten in seinen Spitzen und seinen Millionen auflöste.
»Die Unglückliche!« flüsterte er zusammenschaudernd.
Den Abbé Judaine überkam eine Freudigkeit himmlischer Hoffnung. Er sagte vertrauensvoll:
»Die Heilige Jungfrau wird sie heilen, ich habe sie so heiß darum angefleht.«
Jetzt ertönte noch einmal die Glocke, und diesmal war es das Zeichen zur Abfahrt. Noch zwei Minuten hatte man Zeit. Ein letztes Drängen und Hasten begann. Leute kamen zurück mit Nahrungsmitteln in Papier eingewickelt, mit Flaschen und Krügen, die sie an dem Brunnen gefüllt hatten. Viele konnten ihren Wagen nicht wiederfinden, und liefen verzweifelt den Zug entlang, während die Kranken sich unter dem beschleunigten Geklapper der Krücken rascher vorwärtsschoben und andere, denen das Gehen Schwierigkeiten verursachte, am Arme von Pflegerinnen ihre Schritte zu beschleunigen suchten. Vier Männern kostete es unendliche Mühe, Frau Dieulafay wieder in ihre Abteilung erster Klasse zurückzuschaffen. Schon waren die Vignerons, die sich begnügten, zweiter Klasse zu reisen, wieder in ihrer Abteilung mitten unter einer gewaltigen Menge von Körben, Kasten und Koffern, die es dem kleinen Gustave unmöglich machten, seine armen, verkrüppelten Glieder auszustrecken. Dann erschienen sie alle wieder: Frau Maze glitt in ihrer stummen Weise herein; Frau Vincent hob ihr liebes Töchterchen vorsichtig in den Wagen, immer von der Angst gepeinigt, sie plötzlich einen Schrei ausstoßen zu hören. Frau Vêtu mußte hereingeschoben werden, nachdem man sie aus der Betäubung ihrer Schmerzen erweckt hatte. Elise Rouquet, die sich bei ihrem gierigen Trinken naß gemacht hatte, wischte sich ihr furchtbares Gesicht ab. Während jeder seinen Platz wieder einnahm, hörte Marie ihrem Vater zu, der ganz entzückt war, daß er bis an das Ende des Bahnhofs gegangen, bis zu einem kleinen Weichenstellerhäuschen, von wo aus man ein wirklich sehenswertes Landschaftsbild zu sehen bekäme.
»Wünschen Sie, daß wir Sie sofort wieder niederlegen?« fragte Pierre, den das angstverzerrte Gesicht der Kranken tief bekümmerte.
»O nein, nein, nachher!« antwortete sie. »Ich habe noch Zeit genug, die Räder in meinem Kopfe rasseln zu hören!«
Schwester Hyacinthe bat Ferrand, noch einmal nach dem Manne zu sehen, bevor er in den Küchenwagen zurückkehrte. Sie wartete immer noch auf den Pater Massias, sehr verwundert über sein unerklärliches Ausbleiben. Sie verzweifelte aber trotzdem nicht, denn auch Schwester Claire des Anges war noch nicht wieder erschienen.
»Bitte, Herr Ferrand, sagen Sie mir, ob der Unglückliche in direkter Gefahr schwebt.«
Von neuem untersuchte, behorchte und beklopfte ihn der junge Arzt. Dann zuckte