Vom Winde verweht. Margaret Mitchell
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Manchmal fiel es Scarlett schwer, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Tante Pitty war ihr noch immer die albernste unter allen alten Damen. Ihre Fahrigkeit und ihre Grillen fielen ihr unerträglich auf die Nerven. Scarletts eifersüchtige Abneigung gegen Melanie wuchs mit jedem Tag, und manchmal mußte sie unvermittelt das Zimmer verlassen, wenn Melanie strahlend von Ashley sprach und aus seinen Briefen vorlas. Aber es lebte sich hier doch so glücklich, wie es unter den Umständen nur möglich war. Atlanta bot ihr so viel neuartige Ablenkung, daß ihr zum Denken und Trauern wenig Zeit blieb. Nur manchmal, des Abends, wenn sie das L icht ausgeblasen hatte, seufzte sie, den Kopf im Kissen vergraben: »Wäre Ashley doch nicht verheiratet! Wenn ich nur nicht in diesem schrecklichen Lazarett zu pflegen brauchte! Was gäbe ich nicht umein paar Verehrer!«
Der Krankendienst war ihr vom ersten Tag an abscheulich, aber sie konnte sich der Pflicht nicht entziehen, weil sie sowohl in Mrs. Meades wie in Mrs. Merriwethers Komitee saß.
Viermal in der Woche hatte sie, vom Hals bis zu den Füßen in einer viel zu warmen Schürze steckend und ein Tuch fest um den Kopf gebunden, den ganzen Vormittag in dem stickigen Lazarett Dienst. Jede Frau in Atlanta, ob alt oder jung, pflegte mit einer Begeisterung, die in Scarletts Augen an Fanatismus grenzte. Ihnen allen war es selbstverständlich, daß auch sie von glühendem Patriotismus erfüllt sei; hätten sie gewußt, wie wenig inneren Anteil sie am Kriege nahm, sie wären empört gewesen. Das einzige, was Scarlett beschäftigte, war die ununterbrochene Seelenangst, Ashley könnte fallen.
Romantisch war die Tätigkeit der Krankenschwestern durchaus nicht. Stöhnen, Delirium, Tod und Gestank! Das Lazarett war übervoll von verschmutzten, bärtigen Männern voller Ungeziefer, die abstoßend rochen und so scheußliche Verletzungen am Körper hatten, daß einem Christenmenschen wohl übel davon werden konnte. Der Geruch der brandigen Wunden schlug ihr schon weit vor der Tür in die Nase, ein ekler süßlicher Gestank, der ihr am Haar und an den Händen haftenblieb. Über den Patienten summten Schwärme von Fliegen, Moskitos und Mücken und quälten sie, daß sie fluchten oder matt aufschluchzten. Scarlett kratzte die eigenen Moskitostiche und schwenkte Palmenwedel, bis ihr die Arme schmerzten und sie allen Verwundeten den Tod wünschte.
An Melanie hingegen schienen die Gerüche, die Wunden und die Nacktheit der Männer spurlos vorüberzugehen, was Scarlett an dieser schüchternsten, verschämtesten aller Frauen wundernahm. Manchmal sah Melanie allerdings sehr bleich aus, wenn sie Dr. Meade die Schalen und Instrumente reichte, während er brandiges Fleisch wegschnitt. Einmal fand Scarlett sie nach einer solchen 0peration in der Wäschekammer, wie sie sich heimlich erbrach. Aber solange die Verwundeten sie sehen konnten, war sie sanft, verständnisvoll und froh, und die Leute nannten sie einen Engel des Erbarmens. Diesen Titel hätte Scarlett auch gern gehabt, aber damit war verbunden, daß man verlauste Männer anfaßte, mit dem Finger im Hals von bewußtlosen Patienten nachfühlte, ob sie nicht etwa an einem verschluckten Priem erstickten, daß man Stümpfe verband und faules und eitriges Fleisch säuberte. Nein, sie mochte durchaus nicht pflegen! Vielleicht wäre es hier erträglicher gewesen, wenn sie bei den Genesenden ihren weiblichen Zauber hätte spielen lassen dürfen. Aber als Witwe konnte sie sich derlei nicht erlauben. Die Genesenden waren in der Hut der jungen Mädchen aus der Stadt, die nicht pflegen durften, damit ihre jungfräulichen Augen nichts Unziemliches zu sehen bekamen. Unbeschwert von Ehe und Witwenschaft konnten sie sich ausleben, und auch die Unscheinbar sten unter ihnen hatten, wie Scarlett mißmutig beobachtete, keine Schwierigkeiten, einen Bräutigam zu finden. Abgesehen von den schwerverletzten und sterbenden Männern im Lazarett, lebte Scarlett ganz und gar in einer Welt von Frauen. An drei Nachmittagen in der Woche mußte sie an den Nähzirkeln von Melanies Freundinnen teilnehmen. Alle Mädchen waren sehr freundlich und zuvorkommend gegen sie, besonders Fanny Elsing und Maybelle Merriwether, die Töchter der beiden städtischen Machthaberinnen. Sie kamen ihr mit solcher Ehrerbietung entgegen, als wäre sie alt und zähle nicht mehr mit. Ihr ständiges Gerede über Bälle und Verehrer erfüllte Scarlett mit Bitterkeit, weil ihre Witwenschaft sie davon ausschloß. War sie nicht dreimal so anziehend wie Fanny und Maybel le? Ach, wie ungerecht war das Leben! Wie ungerecht, daß jeder dachte, ihr Herz läge im Grabe, und es war doch in Virginia bei Ashley!
Aber trotz aller Kümmernisse gefiel Atlanta ihr gut. Die Wochen vergingen, und ihr Besuch dauerte länger und länger.
An einem Hochsommermorgen saß Scarlett am Fenster ihres Schlafzimmers und sah betrübt die Leiterwagen und Equipagen voller Soldaten und Mädchen mit ihren Chaperons fröhlich die Pfirsichstraße hinunterfahren, um Blätterschmuck für den Basar zu holen, der am Abend zum Besten der Lazarette stattfinden sollte. Auf die schattige rote Straße fielen helle Sonnenflecken durch das Laubgewölbe der Bäume. Die Hufe wirbelten kleine Staubwolken auf. In einem Leiterwagen, der den anderen voranfuhr, saßen vier dicke Farbige mit Äxten, während sich hinten im Wagen die mit Servietten bedeckten Frühstückskörbe und Dutzende von Wassermelonen häuften. Zwei der schwarzen Gesellen waren mit Banjo und Harmonika ausgerüstet und gaben schwungvoll »Wenn ihr es gut haben wollt, kommt zur Kavallerie!« zum besten. Hinter ihnen her strömte die lustige Kavalkade, die Mädchen in leichten geblümten Waschkleidern mit feinen Schals, Häubchen, Handschuhen und Sonnenschirmchen. Alte Damen lächelten zufrieden unter Scherzen und Anrufen von Wagen zu Wagen. Genesende Soldaten, eingekeilt zwischen dicken Chaperons und schlanken Mädchen, die viel Lärm und Wesens um sie machten, 0ffiziere zu Pferde im Schneckenschritt neben den Equipagen, Rädergequietsch und Sporengeklirr, schimmernde goldene Tressen, Fächergewedel und dem Gesang der Farbigen. Ganz Atlanta fuhr über die Pfirsichstraße hinaus, um Laub zu pflücken und ein Picknick zu feiern. »Ganz Atlanta« dachte Scarlett, »nur ich nicht.«
Man winkte ihr fröhlich im Vorbeifahren zu. Sie suchte mit fröhlicher Miene zu antworten, aber es wurde ihr schwer. Mit einem Stich im Herzen hatte es begonnen und stieg nun langsam zum Halse herauf. Jeder ging zum Picknick, nur sie nicht. Und heute abend ging jeder zum Basar und zum Ball, nur sie nicht. Das heißt, nur sie, Pittypat und Melly und all die anderen Unglücksvögel in der Stadt, die Trauer hatten, nicht. Melly machte sich nichts daraus und kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie gern hingegangen wäre. Aber Scarlett fühlte den brennenden Schmerz der Entsagung.
Es war ungerecht. Sie hatte doppelt so schwer wie andere Mädchen in der Stadt gearbeitet, um mit allem für den Basar fertig zu werden, hatte Socken, Babykappen und Halsbinden gestrickt und zahllose Meter Spitzen geklöppelt. Viele Kissenbezüge hatte sie mit der Konfö deriertenflagge bestickt. Die Sterne waren wohl ein wenig schief geworden, einige beinahe rund, andere sechsund sogar siebeneckig, aber es machte sich doch gut. Gestern hatte sie bis zur Erschöpfung in dem alten verstaubten Schuppen eines Waffenarsenals gearbeitet, um die Verkaufsbuden, die an den Wänden entlang errichtet waren, mit buntem Stoff zu verkleiden. Das war rechtschaffene Arbeit und kein Spaß gewesen. Den Damen Merriwether und Elsing zur Hand zu gehen, war niemals ein Spaß, sie sprangen mit ihr u m, als wäre sie eine Schwarze. Dazu mußte sie auch noch mit anhören, wie sie mit der Beliebtheit ihrer Töchter prahlten. Was aber das Schlimmste war, sie hatte sich, als sie Pittypat und Cookie bei den Schichttorten für die Tombola half, zwei Blasen in die Finger gebrannt. Sie hatte gearbeitet wie eine Magd und sollte sich jetzt, wo das Vergnügen anfangen sollte, zurückziehen. Ach, es war hart, daß sie einen toten Mann und ein Kind hatte und von allem Schönen ausgeschlossen war! Noch vor einem Jahre hatte sie getanzt und statt der dunklen Trauer bunte Kleider getragen und war mit drei Burschen so gut wie verlobt gewesen.
Sie war siebzehn Jahre alt, und ihre Füße warteten noch auf viele ungetanzte Tänze. Das