Der große Reformbetrug. Udo Schenck
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der große Reformbetrug - Udo Schenck страница 4
So wurde seit Mitte der 1970er Jahre der Ruf nach Deregulierung von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialsystemen sowie nach Globalisierung bzw. Marktöffnung immer lauter, womit der Kampf des großen Kapitals gegen den Protektionismus bzw. gegen den modernen Wohlfahrtsstaat verstärkt aufgenommen wurde. Die wettbewerbsstarken Branchen Deutschlands gehen entgegen weiten Teilen des Mittelstandes, der vor allem auf dem heimischen Binnenmarkt seine Einkommen erzielt, sogar soweit, die völlige, ungeschützte Marktöffnung Deutschlands zu fordern, weil andere Staaten sonst kaum zur Öffnung ihrer Märkte zu bewegen wären, die sie erobern wollen. Deswegen regt sich in den letzten Jahren zunehmend Widerspruch aus dem Mittelstand gegen eine exportorientierte Wirtschaftspolitik der völligen, ungeschützten Marktöffnung. Jedoch stoßen große Teile dieses Mittelstandes immer noch mit dem Großen Geld gemeinsam ins Horn, geht es darum Löhne und Gehälter zu drücken, Lohnnebenkosten und Steuern zu senken, Sozialabbau zu fordern, letztendlich einen schlanken Staat zu fordern, der im Idealfall darauf reduziert sein soll zu ihren Gunsten Recht zu sprechen und der dennoch befähigt sein soll eine hervorragende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Diese Teile des Mittelstandes vergessen oder verdrängen offenbar, dass sie sich damit ihren Markt, den deutschen Binnenmarkt kaputt machen, ins eigene Fleisch schneiden, weil ihm so Nachfrage bzw. Kaufkraft abgeschöpft wird. Den Global Playern dagegen kann dies ziemlich gleichgültig sein, sie verdienen ihr Geld nun vor allem auf dem ungleich größeren und rasant wachsenden Weltmarkt. Neben ihrer Wettbewerbsfähigkeit und dem freien Zugang zu den Märkten fordern sie ein starkes, für Interventionen im Ausland geeignetes Militär, dem die „Verteidigung“ der globalen Märkte und Verkehrswege zukommen soll. Die Landesverteidigung, also das Heimatland und die eigene Bevölkerung zu schützen, die zu Zeiten des Wohlfahrtsstaates in Deutschland noch vorrangiger, zumindest vorgeblicher Sinn und Zweck der Armee war, kommt heute nur noch eine untergeordnete Rolle zu. Die Armee verteidigt heute also noch weniger das ganze Volk, als vielmehr die Interessen des Großen Geldes auf dem Weltmarkt.
Wir haben nun auf der einen Seite den modernen Wohlfahrtsstaat, der sich seiner theoretischen Programmatik nach unterschiedslos dem Wohl aller, in seinem Staat lebenden Menschen gegenüber verpflichtet sah sowie ihrer Protektion, nach innen wie nach außen. Auf der anderen Seite verwandelt sich dieser Wohlfahrtsstaat bzw. Staat seit den letzten rund drei Jahrzehnten in einen zusehends neoliberal geprägten, schlanken Staat, der sich im Grunde genommen nur noch einer dünnen, aufgrund ihres enormen Reichtums jedoch äußerst einflussreichen Schicht, gegenüber verpflichtet sieht, zu dessen Erfüllungsgehilfen er letztendlich verkommt. So verfügt heute nur ein Prozent der Menschen in Deutschland über mindestens ein Drittel der gesamten Privatvermögen, mit steigender Tendenz. Dieses sich eigentlich auflösende, entsolidarisierende Staatsgebilde ist nicht mehr selbstgenügsam, vor allem auf sich allein bezogen, sondern wird nicht mehr satt, es verbraucht seine Ressourcen ohne sie zu hegen und zu pflegen, es betreibt Raubbau und wildert überall dort, wo die Ressourcen am verfügbarsten-, am leichtesten zu erjagen sind, wo es sich zum größten Schaden der Ressourcen, der Länder und Menschen, versucht schadlos zu halten: Wozu sollen „wir“ (die Global Player, das Big Business) mühsam den Kirschbaum hegen und pflegen, Geld für ihn ausgeben und hinaufklettern um seine Früchte zu ernten? Da nehmen „wir“ doch lieber schnell die Motorsäge (i. ü. Sinne) und haben sogleich alle Kirschen auf einmal; Zeit ist Geld und außerdem gibt es noch so viele andere Kirschbäume. Wozu sollen „wir“ lange, mühsam und teuer selbst ausbilden, das wäre doch dumm, es gibt doch so viele ausländische Fachkräfte? Ob „wir“ hier in Deutschland Wachstum und Kaufkraft haben ist doch so was von egal, „wir“ können doch unsere Waren und Dienstleistungen auf dem viel größeren Weltmarkt verkaufen, Hauptsache da gibt es Nachfrage. Da ist es viel wichtiger wenn „wir“ hier in Deutschland mit niedrigen Löhnen und Lohnnebenkosten wettbewerbsfähiger sind. Engpass bei Pflegekräften? (v. a. weil dies eine äußerst harte Arbeit ist, die ebenso schlecht bezahlt wird) Kein Problem: die führen „wir“ z. B. aus Rumänien oder China ein und drücken dann schön weiter die Löhne.
Wenn alle anderen Volkswirtschaften auf diesem Planeten ebenso verfahren würden wie „wir“, wohin könnten „wir“ dann noch etwas verkaufen?
Ein Dokument und Meilenstein neoliberaler Politik stellt die sog. Lissabon-Strategie dar, deren Programm gleichwohl den Weisungen mächtiger Lobbyorganisationen des Großkapitals, wie u. a. des European Round Table of Industrialists (ERT), des Trans Atlantik Business Dialogue (TABD) oder des BusinessEurope folgte. Erklärtes Ziel der im März 2000 durch die Staats- und Regierungschefs der EU verabschiedeten Lissabon-Strategie war es, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dieses Ziel sollte nach neoliberalem Muster durch sog. Liberalisierungen, Privatisierungen, Flexibilisierung und Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche erreicht werden. Wesentliche Instrumente der Lissabon-Strategie waren dabei eine verstärkte Marktöffnung der Volkswirtschaften, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und ein einseitiger Konsolidierungskurs in der Geld-, Steuer- und Haushaltspolitik zu Lasten der Allgemeinheit, also der weitgehende Abbau des Sozialstaates. Hierhin lassen sich die Ursprünge der „Reformen“ im Rahmen der Agenda 2010, wie u. a. der Hartz-Gesetze, der Renten-, Steuer- und Pflegeversicherungsreformen zurückverfolgen.
All diese „Reformen“ bzw. sozialen Einschnitte werden gegenüber der Bevölkerung als angeblich alternativlos und mit einer angeblichen Export- bzw. Außenhandelsabhängigkeit Deutschlands gerechtfertigt, nur so wäre Wirtschaftswachstum herbeizuführen und Erwerbslosigkeit zu bekämpfen. Die Zahlen und Tatsachen geben jedoch ein völlig anderes Bild wieder. Zunächst werden bis heute nur etwa 20 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes (BIP) durch den Export erwirtschaftet, ebenso wie nur rund 20 Prozent der Werktätigen für den Export arbeiten. Noch im Jahr 1995 wurden nur 13,7 Prozent des BIP in Deutschland durch den Export erwirtschaftet, wie ebenso weniger Beschäftigte (15,6 Prozent) für diesen arbeiteten. Diese Veränderungen sind auf eine sehr ausgeprägte Öffnung der deutschen Märkte gegenüber dem Weltmarkt zurück zu führen, die für eine Volkswirtschaft dieser Größe sehr ungewöhnlich ist, was sich ebenso im Vergleich mit ähnlich großen Volkswirtschaften zeigt. Jedoch werden in Deutschland also immer noch rund 80 Prozent des BIP auf dem heimischen Binnenmarkt erwirtschaftet, wie auch immer noch rund 80 Prozent der Beschäftigten für diesen arbeiten. Man kann also schwerlich behaupten wir würden vom Export leben.
Die Öffnung der deutschen Märkte hatte tief greifende Veränderungen auf die Struktur von Wirtschaft und Beschäftigung zur Folge. So gingen sehr viele klein- und mittelständische Betriebe, die weniger hochwertige Erzeugnisse herstellten, wie in der Textilindustrie, in Konkurs, da sie nicht mehr der anstürmenden Billigkonkurrenz des Auslandes gewachsen waren, womit entsprechend viele Arbeitsplätze vernichtet wurden. Allein in der deutschen Textilindustrie gingen von rund einer halben Million Arbeitsplätzen zu Anfang der 1990er Jahre bis 2010 über vierhunderttausend verloren. Die vielen mittelständischen Betriebe, die doch die eigentliche Masse der Arbeitsplätze stellen, werden offenbar weit weniger protegiert als das Große Geld, wie sich dies auch im Falle der einst blühenden deutschen Solarindustrie zeigt. So sprach sich die letzte schwarz-gelbe Bundesregierung gegen sogar von der EU geplante Strafzölle gegen Dumpingpreise u. a. chinesischer Solarmodulhersteller aus. Der damalige Bundeswirtschaftsminister P. Rösler (FDP) beugte sich der Forderung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie BDI, eines bedeutenden Sprachrohres des Großen Geldes, und des Präsidenten des Außenhandelsverbandes, A. Börner, auf Strafzölle zu verzichten, weil „die“ deutsche Industrie wegen ihres hohen Exportanteils auf offene Märkte angewiesen sei.
Letztendlich sind so ganze Branchen in Deutschland verschwunden oder zur Bedeutungslosigkeit verkümmert. Das was