Der große Reformbetrug. Udo Schenck
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Das gegenwärtige, angebliche „Beschäftigungswunder“ beruht also nicht etwa primär auf der Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern ist vor allem auf die Reformen bzw. Deregulierung des Arbeitsmarktes, des Rentenrechtes usw. zurück zu führen. Durch die Einschränkung der Rechte von Erwerbslosen und Arbeitnehmern erpresst man die Menschen regelrecht zu Tätigkeiten zu den möglichst schlechtesten Bedingungen, so wie das früher nicht möglich war. So werden nun häufiger auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer in weniger anspruchsvolle Dienstleistungstätigkeiten abgedrängt. Zugleich wird aber ein Fachkräftemangel beklagt, der jedoch so nicht besteht und hinter dem viel mehr das Bestreben nach Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials zu seiner höheren Verfügbarkeit bzw. zu seiner Verbilligung steht. Älteren Arbeitnehmern wird der Ausstieg aus dem Erwerbsleben u. a. durch eine willkürliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die doch im Grunde genommen nur eine faktische Rentenkürzung darstellt, verwehrt bzw. durch massive Abzüge unattraktiv gemacht. Millionen von Normalarbeitsplätzen wurden und werden durch atypische Beschäftigungen substituiert, die in den meisten Fällen so prekär sind, dass ihr Lohn nicht für den Lebensunterhalt ausreicht. In diesen Millionen Fällen müssen Transferleistungen des SGB II (Hartz IV) in Anspruch genommen werden, die aus Steuermitteln zu finanzieren sind, was eigentlich nicht notwendig sein sollte, würden die Arbeitgeber dazu angehalten werden anständige Löhne zu zahlen bzw. würden sie nicht in ihrem Bemühen bestärkt werden, Löhne und Gehälter zu senken.
Immer noch sind nach offizieller Statistik der Bundesagentur für Arbeit rund drei Millionen Menschen erwerbslos gemeldet. Aberwitziger Weise versucht man bereits bei diesen Zahlen von Vollbeschäftigung und einem „kerngesunden“ Arbeitsmart zu sprechen, offenbar um die Gesellschaft an diesen Arbeitslosensockel zu gewöhnen, ihn als normal und naturgegeben darzustellen. Wie grotesk dies ist zeigt sich, hält man sich vor Augen, dass man in den 1960er und 1970er Jahren bei nur sehr wenigen hunderttausend Erwerbslosen zu recht von Vollbeschäftigung sprach. Sehr aufschlussreich ist indessen wie sich die Europäische Kommission u. a. in ihren „Integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung (2005-2008)“ zum Erreichen von Vollbeschäftigung äußerte. Danach wäre neben der Belebung der Arbeitkräftenachfrage auch eine „Verringerung der Nichterwerbstätigkeit“ (nicht Menschen die Arbeitslos gemeldet sind, sind hier gemeint, sondern solche die bisher nicht im Erwerbsleben standen, wie z. B. Hausfrauen) und die „Steigerung des Arbeitskräfteangebots“ notwendig! Das ist etwa so als würde man versuchen ein Glas zu leeren, indem man immer wieder etwas hinein gießt. Die wahre Absicht, die dahinter steht, gilt vielmehr der Erhöhung des untereinander konkurrierenden Arbeitskräftepotenzials zur Optimierung seiner Allokation, d. h. zu seiner preiswertesten Verfügbarkeit. U. a. wird dies auch durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die o. g. sog. „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ gefördert. Letztendlich gehen die offiziellen Arbeitslosenzahlen auf eine Vielzahl von Verordnungen zur Kaschierung derselben zurück bzw. auf die sog. „Entlastung der Arbeitslosenstatistik“, vor allem seit Einführung der Hartz-Gesetze. So müsste die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen in Deutschland heute ungleich viel höher liegen, würde man frühere Erfassungsmaßstäbe zugrunde legen.
Auch mit dem Wirtschaftswachstum ist es seit der neoliberalen Wende in Deutschland, vor rund dreißig Jahren, nicht mehr weit her, wobei es sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich weiter abschwächte. Von den über dreißig Industrie- bzw. OECD-Mitgliedsstaaten hat Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen, tatsächlich mit die schwächsten Wachstumsraten in diesem Zeitraum zu verzeichnen. Das mag angesichts der permanenten Beteuerungen von Politik und Wirtschaft, Wirtschaftswachstum hätte absolute Präferenz, verwunderlich erscheinen, was es in der Tat jedoch keineswegs ist. Denn dieses verminderte Wirtschaftswachstum wurde und wird unmittelbar durch eine restriktive Spar- und Niedriglohnpolitik, einer Politik des schlanken Staates und Sozialabbaus verursacht. Infolge der Minderung und Stagnation der großen Mehrzahl der Einkommen erfolgte und erfolgt ebenso eine Minderung und Stagnation des privaten Konsums, denn Menschen die weniger Einkommen erzielen können nun mal nicht mehr ausgeben. Ebenso ist ein immer schlankerer Staat nicht fähig seinerseits Waren und Dienstleistungen nachzufragen, womit er zusätzlich seiner Fähigkeit beraubt wird, seine Aufgaben zum Ausbau und Erhalt der gesellschaftlichen Infrastruktur erfüllen zu können. Letzteres wirkt sich zudem negativ auf die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland aus. Dort wo sich der Staat zurückzieht sollen private Unternehmen u. a. die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Da private Unternehmen naturgemäß primär um ihren Profit besorgt sind und allenfalls an nachrangiger Stelle um die Versorgung der Bevölkerung, wird dies in aller Regel für die Verbraucher teurer als zuvor. Die drastischen Erhöhungen der Wasser- und Strompreise in den vergangenen Jahren, vor allem für Privatkunden, sei nur ein kleines Beispiel, wobei die Versorgung der Bevölkerung nicht unbedingt besser wird, sondern in vielen Fällen sogar noch erheblich schlechter, wie das Beispiel der Berliner S-Bahn zeigt. Auch dies, die höhere Belastung der Bevölkerung mit steigenden Lebenshaltungskosten und Abgaben bei gleichzeitiger Stagnation oder sogar Minderung ihrer Einkommen, kann ganz sicher nicht zu einem höheren Bruttoinlandsprodukt (BIP) beitragen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ein höheres Wirtschaftswachstum keineswegs zu mehr Belastung der Umwelt führen muss; ebenso gut kann es die Belastungen verringern, indem z. B. der Ausbau regenerativer Energien gefördert wird. Das verminderte Wachstum der Realwirtschaft begünstigt zudem eine weitere fatale Entwicklung. Entsprechend dem geringen Wachstum sinken dort auch die Profitraten, was zu höheren Anreizen für Kapitalanlagen in der lukrativer erscheinenden und nun ebenfalls deregulierten Finanzwirtschaft führt (Kasinokapitalismus). Dies wiederum schürt die Gefahr von sich immer häufiger und weiter aufblähenden Spekulationsblasen, die mit ihrem Platzen entsprechende Krisen verursachen.
Wie o. g. erfolgt die Senkung der Lohnnebenkosten – also die Senkung der Beiträge zu allen Sozialversicherungskassen – vor allem zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten Wirtschaft. Also nicht mehr der Erhalt des Lebensstandards steht hier im Vordergrund, sondern die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zugunsten weniger. Hierin liegt auch der Grund, weshalb z. B. die Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten immer weiter hinter dem allgemeinen Lohnniveau zurück hinken, Leistungskataloge der gesetzlichen Krankenkassen immer mehr zusammengestrichen werden oder für die berufliche Weiterbildung von Erwerbslosen nur noch rund zwanzig Prozent von dem ausgegeben wird, was vor fünfzehn Jahren noch dafür bereitgestellt wurde. Die Kürzung der Renten wird vor allem mit dem demographischen Wandel (hier Geburtenrückgang) gerechtfertigt. Hierbei wird unterschlagen, dass dieser Wandel bereits seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfindet, jedoch durch die erfolgten Produktivitätssteigerungen weit überkompensiert wurde und wird. Auf der anderen Seite ist es aber eben genau diese i. w. S. lebensfeindliche Spar- und Geizpolitik, die einen noch stärkeren Geburtenrückgang fördert, also buchstäblich seine Kinder frisst. Ferner wird hierbei auch unterschlagen, dass durch weniger Kinder Betreuungs- und Bildungskosten eingespart werden.
Staatliche Institutionen werden schrittweise privatisiert, was nichts anderes heißt, als dass gesellschaftliches Eigentum aus der Hand gegeben wird, also enteignet wird. Die Bürger werden darum in euphemistischstem Ton zu sog. Eigenverantwortung aufgerufen, sollen u. a. für ihren Lebensabend zusätzlich bzw. allein und privat vorsorgen, obwohl dies zumeist ineffizienter und erheblich teurer als früher ist. Angesichts der von Politik und Wirtschaft herbeigeführten Absenkung der Löhne und Einführung eines Niedriglohnsektors ist das weit mehr als ein grotesker Zynismus, können doch gerade die mit den geringsten Einkommen, die es also am dringendsten müssten, am wenigsten zu ihrer Altersversorgung beitragen.
Die Steuerpolitik folgt ebenso der neoliberalen Wettbewerbspräferenz, was deutlich an der Veränderung der Steuerlastverteilung zugunsten einer erheblich geringeren Besteuerung von Gewinnen und Besitz zu Lasten bzw. höherer Besteuerung von Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit und Verbrauchssteuern ablesbar ist. So trugen