Der große Reformbetrug. Udo Schenck
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Eine durch den dichten Palaverdunst gedämpfte, schwache weibliche Stimme aus einem Lautsprecher ruft einen unverständlichen Namen aus, worauf sich niemand zu den Schaltern auf macht, die sich hinter hohen, mobilen Trennwänden verbergen. Schon wird ein anderer Name aufgerufen; dem Ruf folgt ein dürrer, langhaariger Mann in schwarzer Lederjacke. In der Sitzreihe vor mir stöhnt ein Mann zu seiner Nachbarin, er würde jetzt schon viereinhalb Stunden im Jobcenter zubringen und hätte noch so viel zu erledigen. Ich denke, das kann ja heiter werden, was denken die sich hier nur? Zum Glück habe ich eine Tageszeitung dabei, die ich nun im Sitzen in Ruhe lesen kann, aber hoffentlich verpasse ich nicht meinen Aufruf, wenn ich ins Lesen vertieft bin. Ich sage mir, so wie die Dinge liegen wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, also lese ich erst einmal; sollte ich jedoch den Aufruf verpassen, hätte ich die ganze Zeit umsonst hier gesessen und gestanden. Warum nur geben die keine Wartenummern mehr aus? Dann könnte man sich wenigstens am Stand einer Nummernanzeige orientieren und könnte mal hinausgehen. Es wäre vielleicht nicht verkehrt jetzt gleich noch mal auf die Toilette zu gehen, aber dann könnte der Sitzplatz weg sein. Noch dümmer wäre es aber nachher auf die Toilette gehen zu müssen, weil es nicht mehr hinaus zu zögern ist und so vielleicht den Aufruf zu verpassen. Also gehe ich gleich. Prompt ist der Sitzplatz weg, als ich wieder komme. Nach einer kleinen, stehenden Ewigkeit von etwa zwanzig Minuten wird wieder ein Platz in meiner Nähe frei, auf den ich mich setzen kann.
Mittagszeit – die verbrauchte Luft lastet schwülwarm, stickig und träge, so träge und müde wie die Zeit, die nicht vergehen will. Meine Zeitung las ich bereits vor über einer halben Stunde aus und immer noch ist der Laden voll, kommen noch Leute herein. Ich bin müde, konnte eben beim Lesen kaum noch die Augen aufhalten – bloß nicht einnicken und dann noch den Aufruf verpassen. Aber es dürfte eigentlich nicht mehr so lange dauern, ich müsste doch bald dran sein. Hoffentlich haben die mich nicht vergessen oder gar vergessen wollen. Was kann ich nun machen, einen Kugelschreiber für das Kreuzworträtsel in der Zeitung habe ich dummerweise vergessen. Ich frage meine Nachbarin, ob sie vielleicht einen Stift hätte. Sie bedauert freundlich keinen zu haben. Ich frage den Mann zu meiner Rechten, aber auch er bedauert. Ich gebe es auf.
Endlich ruft eine zerkratzte, dünne weibliche Stimme meinen Namen aus. In einer sonderbaren Mischung aus Mittagsmüdigkeit und Schicksalsergebenheit, einer sedierten Gleichgültigkeit, gar gekocht – was kann nun schon noch groß geschehen – trete ich vor den Schreibtisch der Sachbearbeiterin. Sie fragt nach meinem Kundenausweis und meinem Anliegen und bedeutet mir knapp Platz zu nehmen. Die Sachbearbeiterin, eine zierliche, schlicht gekleidete Mittzwanzigerin, mit wasserstoffblond gefärbten langen Haaren starrt mit kleinen, dunklen und stumpfen Mausaugen auf ihren Bildschirm und gibt mir für den 13. Oktober einen Termin, was erst in gut drei Wochen ist. Ich frage ob es nicht doch vielleicht etwas früher gehen könnte, worauf sie sagt, dass meine Vermittlerin bis dahin krankgeschrieben sei. Was wäre wenn sie noch länger krankgeschrieben wird, will ich wissen. Das müsste ich abwarten, dazu könne sie mir nichts sagen, gibt die Mausäugige schmallippig von sich. Also willige ich notgedrungen ein, bedanke mich und gehe davon.
Ich gelange nach draußen, wo mich eine wunderbar unverbrauchte, frische Luft unter einem heiteren Altweibersommerhimmel empfängt; es ist befreiend, ja geradezu erquickend diese Luft zu atmen, aufatmen zu können während der eiserne Griff, der sich scheinbar noch um meinen Brustkorb spannt, allmählich erlahmt, gleich dem verblassenden Alpdruck eines abziehenden, schweren Donnerwetters in Kindertagen. Ich fühle mich matt, fix und fertig; bald fünf Stunden war ich in diesem grässlichen, nach menschlicher Niedertracht und Abgestumpftheit geradezu stinkenden Schwitzkasten gefangen.
Nun hänge ich jedoch ziemlich in der Luft, weiß nicht wann ich wegfahren kann und ob überhaupt. Zudem wollte ich bereits in etwa einer Woche wegfahren, denn wer weiß wie später die Witterung sein wird. Ich kann nichts machen, keine Unterkunft buchen, nichts, gar nichts. Wofür wird da so viel Aufheben gemacht? In der ganzen Zeit, die ich nun beim Jobcenter gemeldet bin wurde mir keine einzige Stelle auf dem regulären, ersten Arbeitsmarkt vermittelt.
13. Oktober bei meiner Arbeitsvermittlerin, die ich bis dahin noch nicht kennen lernte. Sie war eine durchaus umgängliche und nette Frau und genehmigte mir anstandslos und ab sofort die gewünschten drei Wochen der Ortsabwesenheit. Auch auf meinen Wunsch, wegen der nun erforderlichen sofortigen Rückmeldung aus der Ortsabwesenheit, mich direkt bei ihr persönlich melden zu können, um der stundenlangen Warterei bei der Anmeldung im Jobcenter zu entgehen, ging sie bereitwillig ein.
Nun war es also Mitte Oktober, hatten wir bisher den schönsten Altweibersommer und goldenen Oktober, so kündigte sich jetzt eine grundsätzliche Änderung der Witterung an, es sollte in den kommenden Tagen erheblich kühler und nasser werden. Und so war’s das mit meinen Urlaubsplänen. Trotzdem war es wohl besser nicht vor dem 13. Oktober weg gefahren zu sein, wie ich dies unter diesen Umständen zuerst noch durchaus in Erwägung zog. Denn noch am 26. September erhielt ich vom Jobcenter die Aufforderung, mich am 1. Oktober bei einer Art Jobmesse, bei der es um Tätigkeiten in sog. Callcentern ging, einzufinden. Hätte ich nicht darauf reagiert wäre es zur Kürzung meines Arbeitslosengeldes gekommen. Bis dahin wusste ich noch nicht, dass auf mich wiederum eine neue Arbeitsvermittlerin wartete, wohl besser gesagt ein neuer, ausgesprochen garstiger Besen, wie sich bald heraus stellen sollte.
Betrachtungen und Untersuchungen von anderer Seite
„Die sind sehr, mit ihren Worten können die einen niedermachen. (…) Und ich mach’s immer so, ein Ohr rein, dann geht’s bei mir einmal durch ‘n Magen und tritt auf der andern Seite wieder raus. Ich hab’ ‘ne Phase gehabt, da ging es da rein und hielt sich im Magen fest und jetzt kann ich damit umgehen.(…) Aber wenn ich zur ARGE muss und da was abliefern muss, das ist schon schwer.“
Zitat von einer allein erziehenden sog. Kundin aus: Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, S. 8, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung
Vor dem Hintergrund, dass sich die sozialen Beratungsstellen der Diakonie in den zurück liegenden Jahren gehäuft von Leistungsbeziehern aus dem Rechtskreis SGB II (Hartz IV) gegenübersahen, die sich über einen herabwürdigenden Umgang und über schlechte und falsche Beratung in den Jobcentern beklagten, beauftragte das Diakonische Werk Hamburg Sozialwissenschaftler/innen Leistungsberechtigte aus dem Rechtskreis SGB II zu problematischen Erfahrungen mit den Jobcentern zu befragen. Zudem wurden Expert/innen interviewt, die aufgrund ihrer Beratungstätigkeit mit der Verwaltungspraxis gegenüber Leistungsberechtigten konfrontiert sind. Mit dieser Untersuchung sollten die oft als „negativ“ beschriebenen Erfahrungen begrifflich genauer gefasst und kategorisiert werden (vgl. Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung).
Zur Einleitung dieser Studie heißt es: „…Mit einer ganz ähnlichen Thematik hat übrigens das Diakonische Werk der EKD 110 Beratungsstellen im ganzen Bundesgebiet befragt. Sowohl die Befragung des DW der EKD als auch die Hamburger Untersuchung kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Menschen im SGB-II-Bezug vermissen Respekt vor ihrer Person und ihrer Lebenssituation. Sie erfahren ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Bevormundung, sie vermissen bedarfsgerechte individuelle Hilfen. Viele fühlen sich wie Bürger/innen zweiter Klasse behandelt und nicht wie Kund/innen. (…) Aus Sicht der Diakonie sind Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit den Behörden und dem Hartz IV-System ein Stück weit ausgeliefert und brauchen eine starke rechtliche Stellung, um selbstbestimmt ihre Chancen zu wahren. Sie brauchen darüber