Der große Reformbetrug. Udo Schenck
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Nicht selten würden ALG-II-Beziehende eine Haltung zu spüren bekommen, die ihnen Faulheit und Arbeitsunwilligkeit unterstellen würde, und die einem stereotypen Bild aus medialen Diskursen ähneln würden, mit dem ALG-II-Beziehende über einen Kamm geschoren würden. Dies würde z. B. in der folgenden Äußerung einer Arbeitsvermittlerin gegenüber einem Kunden zum Ausdruck kommen: „Passen Sie auf, Sie kriegen jetzt so lange von uns Geld und es ist an der Zeit, der Gesellschaft auch was zurück zu geben.“ In solchen Äußerungen spiegele sich bereits ein übergriffiges Verwaltungshandeln wieder, bei dem ALG-II-Beziehende in einer Weise als ‚ganze Person’ „adressiert und bewertet“ würden, die angesichts ihrer berechtigten Rechtsansprüche eine ganz klare Grenzüberschreitung darstellen würde. Diese Form der „Distanzlosigkeit oder Übergriffigkeit“ könne als ein Ergebnis der Hartz-Reformen gesehen werden, mit denen die Eigenschaften des Kunden in den Vordergrund gerückt wurden, die es nun – anstelle struktureller Ursachen (z. B. fehlende Arbeitsplätze) – zu beheben gelte. Im Jobcenteralltag könne dies für ALG-II-Beziehende darauf hinaus laufen, mit respektlosen Äußerungen konfrontiert zu sein, die ihrer krisenhaften Situation in keiner Weise gerecht werden und somit die Kontakte zum Jobcenter zusätzlich erschweren würden (vgl. ebd. S. 8).
Neben abfälligen Äußerungen von Jobcentermitarbeitern über die äußere Erscheinung von Kunden, die in der o. g. Studie dokumentiert werden, werden auch handfeste Beleidigungen wie diese von einem Kunden zitiert: „Beleidigungen, die man manchmal so an den Kopp gehauen bekommt“, wie „ Mein Gott, Sie sind ne ganz schöne Nervensäge“ oder „Ach ihre Nummer, immer wenn ich Ihre Nummer sehe, Krieg’ ich nen Hals“ (vgl. ebd. S. 8).
Ferner zeige sich in den Interaktionen, dass oftmals keine Einzelfallbezogene Betreuung stattfände, die ganzheitlich an der individuellen Lebenssituation der ALG-II-Beziehenden ansetze. Vielmehr würden die Fachkräfte in den Jobcentern als „kleine Robotter“ erscheinen, die sich nicht für „deine Geschichte“ interessieren würden, wird eine junge Kundin zitiert. Dass auf die persönliche Situation und besonderen Problemlagen der Kunden in den Gesprächen zu wenig eingegangen würde, sondern diese nach mehr oder weniger dem selben Schema „abgearbeitet“ würden, zeige sich auch an den vorgefertigten Textbausteinen in vielen sog. Eingliederungsvereinbarungen. So wird von einem älteren Kunden beklagt: „Also gerade dieses Zwischenmenschliche, (…) ja der Umgang, sich mal hineinzudenken in den Menschen und bisschen zu spüren, (…) fehlt völlig. Das ist gerade bei Existenzsachen, ist das natürlich schlimm, ne.“
Insgesamt zeige sich, dass es ein zu geringes Verständnis für Grenzen gäbe, die in der Behandlung von ALG-II-Beziehenden selbstverständlich sein sollten. ALG-II-Beziehende bekämen zu häufig ein willkürliches und übergriffig-respektloses Verhalten zu spüren, mit dem ihnen eine Autonomie, die man Bürger/innen gemeinhin zuerkenne, tendenziell abgesprochen würde. Dazu das Zitat von einer allein erziehenden Kundin: „Die sind sehr, mit ihren Worten können die einen niedermachen. (…) Und ich mach’s immer so, ein Ohr rein, dann geht’s bei mir einmal durch ‘n Magen und tritt auf der andern Seite wieder raus. Ich hab’ ‘ne Phase gehabt, da ging es da rein und hielt sich im Magen fest und jetzt kann ich damit umgehen.(…) Aber wenn ich zur ARGE muss und da was abliefern muss, das ist schon schwer.“ (vgl. ebd. S. 8).
Im Bereich ihrer materiellen Rechtsansprüche seien ALG-II-Beziehende mit eklatanter Unzuverlässigkeit und großer Intransparenz konfrontiert, obwohl man annehmen könnte, dass dieser Bereich infolge seiner klaren gesetzlichen Regelung weniger Raum für Unsicherheiten zulassen würde und insofern determinierter wäre als etwa die Gesprächsführung der Jobcentermitarbeiter. Trotz der starken Pauschalierung der Leistungen seit Einführung des SGB II gäbe es immer noch zusätzliche Leistungen über die das Jobcenter aufklären müsste, dies aber in aller Regel nicht tue. Denn von Seiten der Bürger/innen und anderen Verwaltungsinstitutionen könne schließlich keine detaillierte Kenntnis der Gesetzeslage voraus gesetzt werden. Dazu wird ein Rechtsanwalt für Sozialrecht folgendermaßen zitiert: „Es ist schon Kalkül, durch Nicht-Information Kosten zu sparen“ (vgl. ebd. S. 9). Während in den Medien oft das Bild von den Leistungsbeziehenden beschworen würde, die den Sozialstaat missbrauchen würden, erleben die Kunden, dass ihnen u. a. durch fehlende Informationen von Seiten der Jobcenter Leistungen vorenthalten würden. Aber selbst bei der nachträglichen Korrektur von fehlerhaften Bescheiden könnten die Kunden keineswegs mit einem Eingeständnis von Fehlern oder gar mit einer Entschuldigung seitens der Jobcenter rechnen.
Ein weiteres Problem stelle die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Bescheiden dar, mit denen selbst Fachanwälte für Sozialrecht Schwierigkeiten hätten, die sie aus keinem anderen Rechtsfeld kennen würden. So würden gerade bei Änderungsbescheiden fast immer jegliche Begründungen oder Erläuterungen fehlen, welche Leistungen in welcher Weise auf oder angerechnet werden, und die ausgewiesenen Summen würden oft nicht einmal mit Angaben in Kontoauszügen übereinstimmen. Vermeintlich einfache Überprüfungen von Bescheiden gerieten so oft zu einem Ratespiel, bei dem sich der Eindruck einer „systematischen Verschleierungstaktik“ aufdrängen würde. Die diesbezüglichen langjährigen Erfahrungen einer Rechtsanwältin für Sozial- und Familienrecht werden folgendermaßen zitiert: „Also nicht mal die Behördendokumentation stimmt mit den Kontodaten meiner Mandanten überein, das kann nicht angehen. Ich weiß nicht, wie schafft man das überhaupt?! Das verstehe ich überhaupt nicht, das ist mir unbegreiflich, da muss man sich Mühe geben. Und deswegen auch die Vermutung, dass da regelrecht ein Konstrukt hinter steckt, man muss sich bemühen, das so zu verschleiern, dass am Ende nichts mehr passt!“ (vgl. ebd. S. 9).
Bei dem Versuch einen Sachverhalt zu klären würden Kunden wie auch Expert/innen auf eine sehr geringe Kooperationsbereitschaft der Jobcenter treffen. Häufig würden Kunden von den Sachbearbeitern abgewehrt werden oder nur mündliche Aus- und Zusagen bekommen, die jedoch keine Rechtssicherheit gäben. Äußerst kritisch würde z. B. von Anwält/innen gesehen werden, dass die Aktenherausgabe im Land Hamburg Ermessensentscheidung und die Akteneinsicht oftmals kompliziert sei, da ein Termin mit dem Jobcenter ausgemacht und die Aktenlage vor Ort eingeschätzt werden müsse, sofern keine einstweilige Verfügung vorläge. Dies wird als Strategie der Jobcenter angesehen, die anwaltliche Beratung aus dem Verfahren herauszuhalten. Kritisiert wird ferner, dass außergerichtliche Verfahren zu kurzfristigen Klärungen von den Jobcentern strikt unterbunden würden. Zusammen mit der Herabsetzung der Widerspruchsfrist von vier Jahren auf ein Jahr gerieten ALG-II-Beziehende unter Zeitdruck und in eine Spirale der Demoralisierung bzw. Einschüchterung. Angesichts häufiger finanzieller Existenznot sei es höchst problematisch, dass sowohl Widersprüche als auch eröffnete Gerichtsverfahren keine aufschiebende Wirkung hätten und dadurch auch rechtswidrige Bescheide ihre Gültigkeit behielten.
Resümierend heißt es, dass Fehler zu Lasten der ALG-II-Beziehenden keine Einzelfälle seien, sondern regelmäßig vorkämen. Daher könnten und sollten ALG-II-Beziehende noch viel häufiger klagen, um die gravierenden Defizite bei der Umsetzung geltenden Rechts offenkundig werden zu lassen. Hinsichtlich der Rechtssicherheit für ALG-II-Beziehende falle das Urteil der Expert/innen sehr negativ aus. Im Bezug auf Rechtsstreitigkeiten mit dem Jobcenter wurde eine Rechtsanwältin folgendermaßen zitiert: „Zum einen fehlt die Gesetzeskenntnis, in jedem Telefonat (mit dem Jobcenter, d. V.) wird sich nur bezogen auf die Fachanweisung, d. h. die Gesetzeskenntnis ist im Ansatz nicht da, dass merkt man auch an den Bescheiden. Wahrscheinlich finden auch keine Schulungen statt. Das Gesetz ist auch eines, das dazu verführt, Missbrauch zu unterstellen, Lügen zu unterstellen, das ist dem Gesetz auch immanent, anders als bei anderen Sozialgesetzen.“
Ein anderes großes Problemfeld, dem die Studie nachgeht, ist der Fall wenn ALG-II-Beziehende einer Erwerbstätigkeit nachgehen bzw. nachgehen wollen, die jedoch nicht zum Leben ausreicht, sodass sie weiterhin Transferleistungen beziehen müssen. Angesichts der immer wieder erhobenen Forderung von Seiten der Jobcenter die Hilfebedürftigkeit der Kunden möglichst mit allen Mitteln zu reduzieren, erscheine die häufig vorgebrachte Behauptung, nach der die