Der große Reformbetrug. Udo Schenck

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Der große Reformbetrug - Udo Schenck

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wohl auch in dem Bewusstsein, von einer in weiten Teilen indoktrinierten, phlegmatischen und uncouragierten deutschen Öffentlichkeit nichts befürchten zu müssen. Selbständiges, autonomes Denken, Courage und Aufbegehren, wenn dies geboten ist, ein aufrechtes Rückrat gehören wohl noch immer nicht zu den deutschen Tugenden. Eher scheint man allgemein immer noch lieber nach oben buckeln und nach unten treten zu wollen, gleich unwissenden und wehrlosen Legehennen in einem Hühner-KZ, die sich gegenseitig rupfen und die Augen aushacken. Nicht ohne Grund treten Mobbing und Burnout immer häufiger in der Arbeitswelt auf. Und so kann es nicht verwundern, dass die letzte schwarz-gelbe Bundesregierung nicht mal mehr vor Zensur zurück schreckte, wie im Fall des zuletzt veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichtes. Hier passte dann wissenschaftlicher Sachverstand und Erkenntnis von wirklichen Experten plötzlich nicht mehr in die Landschaft, weil die Regierung schlicht anderer „Meinung“ war.

      Der europäische „Einigungsprozess“ – faktisch ein Spaltungsprozess – wird offenbar als Vehikel zum Abbau demokratischer und sozialer Rechte, zur Beseitigung des wohlfahrtsstaatlichen Erbes missbraucht um den partikularen Interessen des Großen Geldes den Weg zu ebenen. Das ist nicht das Europa der Menschen, der Völkerfreundschaft, der Versöhnung und der Menschlichkeit, so sehr dieses zu wünschen wäre, sondern das des Big Business, der Banken, der Lobbyisten, des Egoismus, des Geizes, der Kleingeistigkeit und Engherzigkeit, letztendlich der Barbarei. Was wir im Augenblick erleben führt in die Spaltung Europas, die Entzweiung der Menschen und Völker. Wettbewerb hinterlässt immer auch mindestens einen Verlierer und ein Wettbewerbsfetischismus neoliberaler Ausprägung hinterlässt letzten Endes nur Verlierer. Insofern ist die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU des Jahres 2012 wohl eher als Pfeifen im finsteren Walde und Schwanengesang zu deuten.

      1 Ein ganz normaler Tag in einem Jobcenter

      

      Deutschlands Schicksal: Vor dem Schalter zu stehen;

      Deutschlands Ideal: Hinter dem Schalter zu sitzen

      Kurt Tucholsky

      An einem Septembermorgen im Jahr 2009 nähere ich mich dem Jobcenter Neukölln in der Sonnenallee und erblicke besorgt das ca. 60 bis 70 Meter lange Ende einer Warteschlange aus mehr oder weniger langen, verdrossenen Gesichtern, das aus dem Gebäude des früheren Arbeitsamtes, einem in die Jahre gekommenen Industriebacksteinbau, herausragt und hinter dem ich mich nun notgedrungen anstellen muss. Zum Glück regnet es nicht und kalt sind die Morgenstunden auch noch nicht. Ich muss einige Dokumente abgeben und will mir den Empfang mit einem Eingangsstempel auf den Kopien von diesen Dokumenten, die ich eigens dafür gemacht habe, bestätigen lassen. Außerdem erinnerte ich mich an die Möglichkeit drei Wochen im Jahr den Wohnort verlassen zu dürfen um u. a. Urlaub machen zu können. Dies will ich mir bei dieser Gelegenheit genehmigen lassen. Vielleicht werde ich für eine Woche wegfahren, für länger wird es wohl nicht reichen. Aber wenigstens habe ich dann einmal drei Wochen Ruhe vor dem Jobcenter, so hoffe ich. Ende September, Anfang Oktober, der Altweibersommer, Tucholskys fünfte Jahreszeit ist meistens eine sehr schöne Zeit für Wanderungen in Deutschland. So lange ich dies nicht mehr machen konnte, so sehr freue ich mich nun darauf, auf ein paar stille und sonnendurchflutete Tage, weit weg in einer anmutigen, weiten Mittelgebirgslandschaft, wo ich mal etwas anderes sehen kann und raus komme, aus dem verfluchten Alarmstufe Gelb-Modus (s. Kap. „Leben“ unter den Hartz-Gesetzen - …), vielleicht dorthin wo ich einst meine Diplomarbeit schrieb oder an die Ostsee.

      Die Dokumente in den Hausbriefkasten des Jobcenters werfen oder mit der Post senden ist zu riskant. Immer wieder gehen Dokumente und Anträge verloren oder das Jobcenter behauptet einfach die entsprechenden Dokumente nie erhalten zu haben. Neben meinen eigenen leidvollen Erfahrungen höre ich dies immer wieder von anderen, so wie dieser Umstand von Zeit zu Zeit Thema in den Medien ist, vor allem in den Lokalblättern. Noch im vergangenen Jahr konnte man Dokumente und Anträge gegen eine Eingangsbestätigung bei der Poststelle im Hause abgeben, was eine Sache von nur wenigen Minuten war. Ich frage mich warum das heute nicht mehr geht, will man vielleicht die Gewährleistung des Empfangs von Dokumenten hintertreiben? So muss ich mich hier nun womöglich stundenlang anstellen und die Schlange unnötig verlängern um meine Sicherheit zu bekommen und ruhig schlafen zu können.

      Es geht nur sehr schleppend voran; die Sicherheitskräfte mit ihrem zackigen, Barett bekröntem Auftritt lassen immer nur ein halbes Dutzend sog. Kunden in den Anmeldungssaal hinein. Die Leute hier draußen sind genervt, einigen ist es zu viel, sie gehen wieder davon. Sonnenallee – welch eine Ironie, dieser Name. Selbst der heutige Sonnenschein vermag nicht über die Tristesse dieser Gegend hinwegzutrösten, einer Mischung aus heruntergekommener Industrie- und Wohngegend, deren Bewohnern die Freudlosigkeit und der Argwohn aus den Augen blicken und den Gesichtern sprechen, desillusioniert, stumpf und manchmal ziemlich roh. So gilt diese Gegend als eine der vielen so genannten Problemgebiete Berlins. Warum befindet sich das Jobcenter gerade hier? – ein Problem zieht wohl doch das andere nach sich.

      Nach einer guten halben Stunde gehöre ich endlich zu denen, die hineingelassen werden. Ich stehe nun drinnen in der großen Empfangshalle, noch dicht an der Glastür, durch die ich hinein gelangte. Die Luft ist zum schneiden dick und die Menschenschlange ist mit ihren durch die Absperrbänder geleiteten Windungen so dicht gepackt, so notgedrungen, dass sie kaum mehr als Schlange wahrnehmbar ist. Ich frage mich, was ich mir hier eigentlich antue, wie lange soll ich hier heute wohl noch stehen? Und in noch gedämpfter, eingeschnürter Empörung beginne ich mich ebenso zu fragen was die hier, das Jobcenter, mit den Menschen machen, was das soll, muss das hier so ablaufen? Ein alltäglicher „Ausnahmezustand“, wie mir von anderen Leidensgenossen, mit denen ich beiläufig ein paar Worte wechsle, bestätigt wird. Zum Glück ist meine Ischialgie überwunden, sonst könnte ich hier nicht so lange stehen. Die zusammengestauchte Riesenschlange aus langen, oft müden aber nicht selten bereits siedenden Gesichtern staut sich vor der geschlossenen Front von 12 Anmeldungsschaltern, die in ihrer baulichen Höhe beinahe an ein Bollwerk erinnern. Nur sieben Schalter sind besetzt, mit zumeist auffällig jungen Bediensteten, die deutlich erhöht sitzen. Warum sitzen die so erhöht, damit sie vor der Riesenschlange geschützt sind, oder vielleicht damit sie zu einem herabblicken können, damit man selbst zu ihnen aufschauen muss, wie zu seinem Herren?

      Früher, noch vor Einführung der Hartz-Gesetze, als es noch Arbeitsamt hieß war ich schon einmal einige Zeit erwerbslos, da gab es diese Anmeldungsschalter hier noch nicht. Damals wurden die Erwerbslosen noch diversen Berufssparten, wie u. a. Handwerkern, Ungelernten oder Akademikern, zugeordnet um sie gezielt und individuell betreuen zu können. Hatte man ein Anliegen so ging man damals in den entsprechend zuständigen Bereich und zog eine Wartenummer, dessen Anzeige und Aufruf abzuwarten war und setzte sich nieder. Es kam nicht annähernd zu solch langen Warte- und Stehzeiten wie heute, obwohl die offizielle Zahl der Erwerbslosen damals eher noch höher war als heute und die Erwerbslosen, die das Arbeitslosengeld I erhielten, hier mit betreut wurden. Heute werden alle Arbeitslosen unter Hartz IV bzw. die Empfänger des Arbeitslosengeldes II in einen Topf geworfen, weil heute angeblich jede sittlich vertretbar erscheinende Arbeit zumutbar sei. Dass die Vermittlung so effizienter und Kundenorientierter arbeiten soll erscheint sehr zweifelhaft. Aber darauf scheint es nicht mehr so anzukommen. Seit Einführung von Hartz IV heißen die Arbeitslosen bzw. Erwerbslosen nun „Kunden“, sowenig sie aber damit Könige sind.

      Habe ich eine Windung der mächtigen Schlange von langen Gesichtern hinter mir gelassen, so begegnen mir auf der jeweils anderen Seite der führenden Absperrungen stets bekannte Gesichter, gleich Landmarken die verraten, dass es doch allmählich voran zu gehen scheint, durch diese elende Wüste hin zum unbedingt Lebensnotwendigen. So dick, verbraucht und schwül die Luft im Saal, so dicht und gespannt das Murmeln und Wabern dieser trägen Menschenschlange, die sich notgedrungen durch ihr Schicksal wälzt. Am Rande der Menschenmassen stolzieren geschwellter Brust ein halbes Dutzend uniformierte Sicherheitskräfte irgendeiner namenlosen, billigen Securityfirma. So mancher von denen hat hier möglicherweise auch schon

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