I Ging. Andrea Seidl

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I Ging - Andrea Seidl

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jenen noch matriarchal geprägten Zeiten entstanden auch die Wurzeln des Taoismus, der in vielem auf die Kosmogonie des I Ging zurückgreift, sich aber auch unabhängig davon entwickelte, um dann wieder auf die Ausdeutung des I Ging zurückzuwirken.

      Der Taoismus ist seit jeher eine völlig unpolitische, pragmatische Philosophie, die sich an der Beobachtung der Natur orientiert. Die frühen chinesischen Wissenschaftler studierten den Lauf der Sterne und die Abfolge der Jahreszeiten, damit sie die bedrohlichen Launen der Natur, wie Überschwemmungen oder Dürreperioden, besser verstanden und ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert waren. Sie machten bei ihren Beobachtungen die Entdeckung, dass Ereignisse, die zeitgleich auf ganz verschiedenen Ebenen (Wetter, Politik, Kunst, persönliche Beziehungen…) stattfanden, dieselbe Grundqualität aufwiesen. Daraus zogen sie den Schluss, dass Natur und Geist innig verwoben sind und dass alle Erscheinungen in der sichtbaren, materiellen Welt einem verborgenen Rhythmus unterliegen, der seine Wurzeln in der geistigen Welt hat. Das führte zu der Konsequenz, dass wohl derjenige im Leben am besten fährt, der im Einklang mit diesen kosmischen Rhythmen lebt, während jedes Zuwiderhandeln auf Kampf, Konflikt und Niederlage hinausläuft.

      Der Taoismus setzt damit auf Werte wie Spontaneität, Natürlichkeit und Bescheidenheit, er schätzt die kleinen Dinge des Lebens. Humor, Muße und Freundlichkeit gelten ihm weit mehr als Erfolg, Wissen und Heldentaten. Sein zentrales Konzept ist das so genannte Wu wei, die Nichteinmischung in den Fluss der Dinge (davon wird später noch einmal die Rede sein…).

      Der berühmteste Vertreter des Taoismus ist Laotse, der Autor des berühmten Taoteking - das Buch vom Tao -, der wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde. Sein geniales Werk, das voller Paradoxien ist, nimmt etwas vorweg, was erst die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts wiederentdecken sollte: die Einheit der Gegensätze. Wenn wir heute das Taoteking lesen, kommen wir dem Weltbild der I Ging-Autoren nahe, weil beide so eng miteinander verwandt sind. Aus diesem Grund werde ich später, wenn ich Ihnen die 64 Hexagramme vorstelle, immer wieder aus diesem faszinierenden Klassiker zitieren.

      Der gesellschaftliche Aufstieg des I Ging

      Auch wenn die Legende erzählt, dass der sagenumwobene König Fu Xi vor ungefähr 5000 Jahren das I Ging verfasst hätte, liegt sein tatsächlicher Ursprung im Dunkeln. Orakelpraktiken wurden in China ja über Jahrtausende hinweg benützt. Erst mit der schriftlichen Fixierung unter König Wen (ca. 1150 v. Chr.) kommen wir in den Bereich soliderer Daten. Diese Epoche war davon geprägt, dass das ursprüngliche Weltbild zunehmend patriarchalisiert wurde. Es entstand ein feudales Gesellschaftssystem, dessen Basis die Familie war. In diesem Staat wurde das Orakel von König Wen selbst betreut: Der Kulturkönig und Begründer der Dschou-Dynastie sorgte dafür, dass die Hexagramme und zugehörigen Texte neu geordnet und vereinheitlicht wurden. Von da an stieg das I Ging allmählich auf zum Leitfaden in allen wichtigen Angelegenheiten des Staates. Vorerst lag dieses Instrument in den Händen der Regierenden und wurde vor allem zu politischen Sachverhalten befragt.

      Der große Gesellschaftsphilosoph Konfuzius, ein Zeitgenosse Laotses, hatte zunächst nur Hohn und Verachtung für die alten Orakelpraktiken übrig. Doch als er sich selbst mit dem I Ging befasste, trat ein Sinneswandel ein. Heute zählt Konfuzius zu den bedeutsamsten Interpreten des I Ging. Er verfasste gemeinsam mit seinen Schülern zehn Anhänge zur seiner Deutung. Der enorme Einfluss der konfuzianischen Philosophie auf die chinesische Gesellschaft reichte bis in die Neuzeit. Über 2000 Jahre hinweg bestimmte sie die gemeinsame Weltsicht der Chinesen, selbst noch nachdem 1911 schon die Republik ausgerufen wurde.

      Das zentrale Konzept der von ihm vertretenen, konservativen Lebenshaltung war die Kindesliebe. In ihr sah er den Ursprung aller Tugenden und die Wurzel der Kultur. Konfuzius predigte einen gesunden Menschenverstand, der nach sozialer Ordnung, Gerechtigkeit, Moral, Bildung und allgemeiner Harmonie strebt. Er war gewissermaßen Chinas erster Volkserzieher und Soziologe. Für ihn war der Staat eine große Familie, mit dem Kaiser als Oberhaupt. In dieser Gesellschaft gab es eine klare Rangordnung, die den Status jeder Person festschrieb – wobei Frauen letztlich auf die Rolle von Dienstmädchen verwiesen wurden, denen man weder Freiheit noch Bildung zugestand. Als höchste weibliche Tugend galt die Treue, notfalls bis in den Tod.

      Unter dem Konfuzianismus wurde das I Ging zur Staatsideologie. Nun musste jeder, der im Beamtenapparat Chinas etwas werden wollte, sich gründlich damit auskennen.

      Ca. 200 v. Chr. wurde das I Ging dann in der heute bekannten Form zusammengestellt. Zur dieser Zeit war es auch längst nicht mehr den Regierungsstellen vorbehalten, sondern wurde in allen Volksschichten benützt, vom Straßenkehrer bis zum Mandarin - es wurde zur „Bibel der Chinesen“. Allerdings hatte es inzwischen auch eine lange Entwicklung durchlaufen, in deren Prozess es mehrfach interpretiert und gefiltert wurde – natürlich immer im Sinne der herrschenden Klasse. Es ist also kein Text aus einem Guss, sondern besteht aus einer Sammlung von Schriften, die sich über zwei Jahrtausende summierten und die den Stempel zahlloser Gelehrter und Machthaber tragen.

      Erst im 16. Jahrhundert ereignete sich wieder eine bahnbrechende Veränderung im höchst traditionsorientierten China, die große Konsequenzen für die Verbreitung des I Ging hatte. In das damals politisch geschwächte Land kamen die ersten europäischen Missionare, die staunend vor seinen mächtigen kulturellen Wurzeln standen. Nun setzte ein reger geistiger Austausch mit Europa ein, der viele dortigen Geistesgrößen inspirieren sollte.

      Der maßgebliche Übersetzer Richard Wilhelm (1873- 1930)

      Unter den Missionaren, die im ausklingenden 19. Jahrhundert nach China kamen, war auch Richard Wilhelm. Sein Name ist inzwischen unauflöslich mit dem I Ging verbunden. In gewisser Weise könnte man ihm sogar das Verdienst zurechnen, dass er das Buch der Wandlungen in die moderne Zeit hinüberrettete.

      Der junge evangelische Theologe ging 1899 mit seiner Frau in den Missionsdienst nach Tsingtau, einem Fischerdorf auf halber Strecke zwischen Peking und Shanghai. Für 21 Jahre sollte er in seiner neuen Wahlheimat China bleiben. Voller Idealismus machte sich Richard Wilhelm an das schwierige Studium der chinesischen Sprache, er gründete eine Schule, richtete ein Hospital ein. Da er sich ohne rassistische Vorurteile aufrichtig für das chinesische Volk engagierte, erwarb er sich mit der Zeit einen Ruf, der ihm die höchste Achtung der Einheimischen einbrachte. So öffneten sich ihm Türen, die anderen strikt verschlossen blieben: Er traf hohe chinesische Gelehrte und taoistische Priester, die ihm Einblick in die alten kulturellen Wurzeln Chinas gaben. Als selbst sehr gebildeter, philosophisch interessierter und spiritueller Mensch war er tief beeindruckt von diesem fremdartigen und doch einleuchtenden Gedankengut. Er ergriff diese einmalige Chance, bei den letzten Vertretern des chinesischen Geisteslebens in die Lehre zu gehen - kurz bevor Mao und die bald heraufziehende Kulturrevolution die alten Traditionen mit eisernen Besen hinwegfegen sollten.

      Bald reifte in ihm die Überzeugung, dass die Weisheit der chinesischen Klassiker auch im Westen bekannt gemacht werden müsse. Zunächst machte sich Wilhelm an die Übersetzung des Taoteking. Dieses Büchlein stellte trotz seines überschaubaren Umfangs bereits höchste Anforderungen an die Übersetzung, da die wenigen Schriftzeichen äußerst unterschiedlich zu deuten sind (bis heute kommen immer neue Interpretationen des Taoteking auf den Markt, die jeweils wieder eine neue Facette dieses Werks beleuchten).

      Das umfangreiche und hoch komplexe I Ging war jedoch eine Herausforderung besonderen Formats. Es übte schon lange große Faszination auf Richard Wilhelm aus. Auch hier leistete er Pionierarbeit. Er machte sich das Werk einerseits umfassend vertraut, indem er es in seinen Alltag einbezog. Andererseits suchte er das Gespräch mit Gelehrten, die ihm die vielschichtigen esoterischen Hintergründe aufschlüsselten. Über zehn Jahre hinweg feilte er an der Übersetzung dieses Buches, das ihm heilig war, weil er darin einen vollständigen Spiegel des Kosmos erkannte. Diese tief schürfende Arbeit veränderte ihn auch als Mensch, sie verwandelte ihn allmählich vom Theologen zum Mystiker.

      Als Wilhelm in den zwanziger Jahren

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