Italien mit allen Sinnen. Otto W. Bringer
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„Wer fährt?“ „Später, später, mein Schatz.“ Ich fühle mich gut. Antipasti vorweg. Kleiner Teller. Wir genießen die Mittagsstunde in dem Haus am Hang neben einem talwärts stürzenden Bach. „Eigentlich muss es hier auch Flusskrebse geben.“ Rose hat wieder die richtige Nase. Wir fragen nach Gàmbero d´aqua dolce. „Si, si Signora, li avremo la prossima settimana, venerdi. Wir haben, Freitag nächste Woche. Das machen wir. Erinnern an die eigenen zu Roses Geburtstag. „Ecrevisse Pérougienne“. Roses französisch gekochte hatten unsere Gäste auf die Knie gezwungen. Lachen beim Gedanken daran.
Immer noch den Kitzel im Kopf blicke ich zum Nachbartisch. „Vor wem sollten die auf die Knie fallen?“ Keine Köchin zu sehen. Sie hatten ihr Hauptgericht gegessen. Leer gegessene Teller mit rotsoßigen Resten und einzelnen Spaghettiwürmern deuten auf eilige Esser. Warten auf das Mädchen zum Abholen. Es kommt. Mit zwei Tellern, auf denen ein Stück Schokoladenfruchtkuchen ofenwarm duftet und wackelt. Wenn er nicht warm wäre, könnte er nicht wackeln.
Das Mädchen geht. Kommt wieder. Mit zwei Espressi. Geht. Kommt. In den Händen zwei Teller mit klitzekleinen Früchten. Stehe auf, als müsste ich irgendwohin. Blinzele einem der Männer über die Schulter. Sollen das Feigen sein? Nie gesehen, so klein. Frage einen der beiden Gäste. „Ma certo, sono fichi, delizioso.“ Aber gewiss, es sind junge Feigen, köstlich. Natürlich erkenne ich jetzt ihre Form. Wie die Ausgereiften, nur eben viel kleiner, niedlicher. Grün, leicht angerötet.
Rose fragt: „Zu Kaffee und Kuchen Feigen? Seltsame Kombination. Sonst nichts?“ Das Mädchen kommt wieder mit zwei Gläsern Gelb. Likör, denke ich. Jetzt trinken die Männer ihr Gelb. Greifen zu den Feigen. Stecken sie zwischen den gelben Schlucken in den Mund. Kauen genüsslich. Lecken ihre Lippen. Schlucken. Acht oder zehnmal nacheinander. Das wollen wir auch.
Rose lacht leise. „ChouChou, Du gehst ein Risiko ein. Aber ich mache mit, klar.“ Bestelle Espresso, Schokoladenkuchen, Limonenlikör und junge Feigen. Das wird ein wunderbarer Abschluss sein vom heutigen Mittag. Die Uhr schlägt halb vor fünf.
Das Mädchen kommt: „Tutto bene? Alles gut? „Si, grazie.“ Stellt zwei Espressi uns vor die Nase. Rose sagt: „Es duftet nach Arabica.“ Zwei Gläser Limoncello, so heißt der Likör: „Ich rieche Amalfi.“ Ein Teller mit den kleinen Feigen: „Denke an Fornalutx, Mallorca.“ Lieber Gott, lass noch mehr kommen. Rose ist in Fahrt. Zwei Teller mit immer noch dampfendem Schokoladenfruchtkuchen.
Rose: „Es duftet wie Ostern.“ Er muss frisch gebacken sein. Zittert leicht, als das Mädchen die Teller auf den Tisch stellt. Jetzt sehe ich auch zwischen braunen Schichten das rötliche Lila reifer Feigen aufblitzen. Eine flexible Pufferzone. Ursache der Wackelei.
Duft steigt auf von allem, was sich unter unserer Nase, vor unseren Augen versammelt hat. Uns bleibt nichts, als zum Löffel zu greifen. Von jungen Feigen aufgemuntert, den himmlischen Geschmack auf die Zunge zu schaufeln. Wir essen die Feiglein komplett mit Pelle, wie wir es am Nachbartisch sahen. Das Duftbouquet in der Nase werden wir nicht mehr los. Im Bauch ein seit langem entbehrtes Wohlgefühl. Kuren verbrennt Kalorien. Zum Glück. Das Abendessen können wir uns schenken.
Erinnere, Fräulein Elisabeth Eisengarten, meine Biologie-Lehrerin, empfahl dringend, Früchte nicht zu schälen. Sondern mit Schale zu essen. Darunter befänden sich die wichtigsten Elemente für Gesundheit und Wohlbefinden. An was Lilliputfeigen alles erinnern.
VENEDIG – Moostropfen pflücken unter Brücken
Unzählige Male vertippelten wir uns in Venedigs Wassergassen. Es war uns egal, wo wir ankamen. Hauptsache Venedig riechen. Und anschauen. Häuser, Paläste, die sich mit dem Wasser vor ihren Türen abgefunden haben. Kanäle mit Marmorbrücken. Holzbrücken. Von jeder dieser Brücken war es nicht weit bis zu einer Trattoria. Einer Kirche. Einem Laden mit Karnevalsmasken, Glasleuchtern, Fächern, ledergebundenen Büchern. Eine kleine Bar. Diesmal sind wir nach Venedig gekommen, um zu bummeln. Nicht zu kaufen. Die schlangenköpfige Maske vom letzten Aufenthalt zuhause im Flur. Medusa, wer ist das?
Wohnen in der Pensione Academia, auch genannt ‚Villa Maravage’ im ältesten Stadtteil Dorso Duro. Mit Bootstaxi zu erreichen. Umständlicher auf einem der stets voll gepferchten Vaporetti, Massentransporter auf dem Canal Grande. Ein- und Aussteigen an der Academia del Arte, Kunstakademie. Hundert Meter rechts, dann links, Brücke rauf, Brücke runter. Mit zwei Koffern der reinste Hindernislauf bis zu unserer Pension. Einmal gemacht. Nicht wieder. Mein Zehntageplan verlangt kürzeste Wege. Und lange Aufenthalte am Ort.
Mein Notizblock ist noch leer. Rose, mein sehr geliebtes Weib, hindert mich am Schreiben mit dauernden Fragen. „Wo sind Fassaden wie Frauen? Wo zittert der Löwe auf der Säule? Wo kann man Moostropfen pflücken? Alles schöne Metaphern in meinen frühen Venedig-Gedichten. Offensichtlich so geschrieben, als wäre es Wirklichkeit. Bin schon wieder in meiner Fantasiewelt, dass ich nicht merke, Rose will mich nur necken. Herausfinden, ob ich noch auf derselben Erde bin wie sie.
„Wer oder was ist Dir wichtiger, Deine Frau oder irgendein alter, noch so schöner Palazzo?“ fragt sie mich. „Dichter“, entschuldige ich mich umständlich, „müssen zumindest ab und zu auf einem anderen Stern leben. Häuser wie Frauen betrachten zum Beispiel. Oder Frauen wie Häuser. Um solche Verse überhaupt schreiben zu können. Wie weit sie sich dabei vom geliebten Weib entfernen müssen, können, dürfen, bleibt eine offene Frage.“
Meine Rose lacht, wie sie immer lacht, wenn ich nach Erklärungen suche, die es genau genommen gar nicht sind. Schon bin ich versöhnt. Mit allen Folgen, die ich mir selber aufbürde. Diesmal lade ich sie zum Dorso Duro ein. Ins ‚Ai Gondolieri’. Das Ristorante liegt hinter dem Guggenheim-Museum. Der führende Gastroführer verspricht fantasiereiche Menüs in angenehmem, typisch venezianischem Ambiente. Riskieren wir es. Rose wird mich nicht verlassen, wenn´s enttäuscht. Eher recherchiert sie ein anderes für morgen. Oder übermorgen. Weiß schon, wie sie tickt.
Wir kennen uns erst sieben Jahre. Keine Zeit für Verliebte mit Open End. Lieben uns einfach. Tun, was der andere möchte. Ohne das Gefühl zu haben, selbst auf etwas zu verzichten. Begriffen es schnell. Den anderen sein zu lassen, der er ist. Wir spüren das Einmalige unserer Liebe wie ein Geschenk. Da bleibt mir nur Danke sagen. Mit Gedichten und anderen, irdischen Sachen. Im ‚Ai Gondolieri’ gibt es sicher das, was ihr schmeckt. Knapp einen halben Kilometer bis dahin.
Wir gehen über Brücken. Etliche der über vierhundert in Venedig. Mal sanft, mal steilauf, steilab geschwungene steinerne Treppen über dunklem Wasser. Brückenbögen, Bögen, nichts anderes als Bögen. Die von irgendwo zum anderswo führen. Weiß schimmernde Architekturen, an denen frühmorgens der moosgrüne Tau der Nacht hängt wie ein Smaragdgeschmeide. Wir setzen uns auf die untere Marmorstufe einer Brücke. Hole eines meiner ersten Venedig-Gedichte aus dem Gedächtnis. „Höre mein Liebes“:
„Lass mich Moostropfen pflücken – unter den Brücken – ich will dich schmücken – mit einem Tränencollier – deine Augen aufleuchten sehen – bevor viel zu schnell – von Sonne und Wind – alle Smaragde geschmolzen sind.“
Roses Augen sind geschlossen. Ihre linke Hand streicht über den Armreif. Alles noch da. Der Carneol mit sieben fein geschliffenen Amethysten. Ihre Lider heben sich. Mich trifft der Blitz. Glück sprudelt.