Italien mit allen Sinnen. Otto W. Bringer
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Ich hatte ihr alles über Torcello erzählt, was ich weiß und ermitteln konnte. Auch diese Insel war im 12. Jahrhundert größer und reicher als Venedig. Bevor Murano sie ablöste. Auch um die zwanzigtausend Einwohner, viele Kirchen und Klöster. Übrig blieben fünfundzwanzig Familien und die beiden genannten Kirchen. Eine einsame Laguneninsel unter einem übervölkerten Himmel.
Wir treten in das Säulenrund von Santa Fosca. „Sieht aus wie eine Moschee.“ Rose sagt, was ich denke. Das Oktogon ist typisch für Byzanz. Aber auch für den gesamten Vorderen Orient. Vorbild der Grabeskirche in Jerusalem. Karls des Großen Pfalzkapelle, heute stimmungsvoller Zentralraum des Aachener Doms.
Bin wie Rose beeindruckt: „In diesem Rundbau atmet Geschichte. Altes immer noch lebendig. Es kommt mir vor, als sprängen im Raum die Marmorbögen von Säule zu Säule. Spüre mich selbst in der Mitte dieses Reigens. Ganz anders als zwischen den Wänden späterer rechtwinkeliger Kirchen.“ Der warme Ziegelton von Wänden und Boden steigert den Eindruck von Mitte. Macht wohnlich, heimatlich wie alles Schöne. Wir möchten uns setzen. Und sinnen. Eine Weile. Aber keine Bank, kein Stuhl, kein Mauervorsprung in Sicht. Die Halle leer. Nur noch Denkmal. Leider. Zehn Schritte gegangen.
Öffnen die kleine Seitentür der Kathedrale und sehen den gleichen Boden. Hart gebrannte Ziegelsteine. In der Mitte des Raums bilden sie eine Rosette aus verschiedenfarbigen Ziegeln. Im Zentrum eine Osterkerze von zwei Metern Länge. Der Chor mit dem Lettner interessiert uns heute nicht sonderlich. Wir gehen bis hin. Drehen uns herum. Erwarten, ja was erwarten wir? Müssen uns an die Dämmerung gewöhnen. Helles Licht würde die jahrhundertalte Stille stören. Das Mosaik auf der Westwand vernebeln. Einziges Thema: ‚Das Jüngste Gericht’.
Aus hunderttausend Splittern farbiger Steine. Marmor zumeist. Aber auch Glas, Holz und Metall. Lassen sich am besten zurechtschneiden und bearbeiten, vergolden. Für Bilder, die der Künstler im Kopf hat. Vielleicht vorher skizziert. Von einem Geistlichen angeregt und kontrolliert. Spontan beeindruckt mich die hohe künstlerische Qualität und handwerkliche Perfektion. Das muss den Mosaikern doch Spaß gemacht haben.
Ich weiß, wie es ist, wenn Auftraggeber mich machen lassen. So wie ich will. Oder wie es mich treibt. Kann mir also gut vorstellen, dass es auch damals den Künstlern großes Vergnügen machte, für Himmel und Hölle neue, bisher nicht gekannte Bilder zu erfinden. Ahne auch die Angst, die es damals auslöste. Angst der Menschen vor dem Letzten, das ihnen droht. Schüchterne Zeitgenossen glaubten bestimmt, es kommt wie sie hier sehen. Himmlische Freuden und höllische Qual. Prophezeiungen eines Jüngers Jesu. Zweifel nicht erlaubt.
In Mosaik sehen die Frommen fromm aus. Die Bösen böse. Der Fantasie schienen keine Grenzen gesetzt. Besonders im Ausdenken höllischer Qualen waren Künstler von Natur aus begabt. Zu allen Zeiten. Nicht nur um zwölfhundert. Verdammte mir verzerrten Gesichtern, ausgestreckten Armen, als riefen sie um Hilfe. Auf Torcello dieses Gericht, das Ende aller Zeiten. Wie es der Evangelist Johannes in seinen Offenbarungen beschreibt. Apokalypse now? Now!
Langsam klärt sich das Bild. Erkennen Einzelheiten. In den oberen drei Feldern Christus, wie wir ihn aus der Bibel kennen. Am Kreuz. Mit Erzengeln, Petrus und Paulus. Im Zentrum als Richter mit Mutter Maria, Johannes der Täufer. Von ungezählten Engeln umgeben. In optischer Mitte ein leerer Thron. Ewiges Herrschersymbol, das auf den Endsieg wartet. Drumherum Engel. Links locken sie mit schön klingenden Hörnern die Guten herbei. Rechts jagen sie die Bösen mit gellenden Fanfarenstössen zum Teufel. Rose zuckt mit keiner Wimper.
So wenig wie Sankt Michael. Der Herr des Geschehens. Auftragsgemäss wacht er, dass alles gerecht zugeht. Sein Gesicht drückt Teilnahmslosigkeit aus. Gerechtigkeit darf nicht fühlen. Links die Frommen. Alle schon im Himmel. Man sieht es an ihren friedlichen, angstfrei gelösten Gesichtern. Dann wieder dieser Satan, mit einem Kind auf dem Schoß, dem sogenannten Antichrist. Um ihn die Verdammten. Von mächtigen Flügelwesen mit Speeren ins ewige Feuer gestoßen. Schreckliches Höllenszenario. Die Künstlerfantasie scheint unerschöpflich zu sein.
Wir kennen die Teufelsgestalten Hieronymus Boschs. Aber nur von kleinen Bildern in Büchern. Schauerlich genug. Die hier können es schlimmer. Weil sie uns von der Wand herunter überlebensgroß auf die Pelle rücken. Erschlagen gewissermaßen. Wir sollen Angst haben. Warum muss ich jetzt an Auschwitz denken? Ob Eichmann in der Hölle schmort?
Mein Blick fällt auf zwei Engel, die Sünder in die Flammen zurückstossen. Mit langen Speeren und sehr entschlossenen Gesichtern. „Mich friert bei dir, Erzengel“ fällt mir ein. Gottesdienstbesucher und Kunstinteressierte können die Kirche auch heute nur durch die Tür in der Mosaikwand verlassen. Müssen das drohende Jüngste Gericht über sich zur Kenntnis nehmen. Mit schlechtem Gewissen oder nicht. Als Zwangspassage eben. Damals sollte es Reue und Besserung auslösen.
Heute scheint die Angst vor der Hölle aus dem Repertoire der Christen verschwunden zu sein. Jüngste Gerichte sind nur noch älteste Kunst. Die jüngste Vergangenheit Vergangenheit. Trotzdem ist Endzeitstimmung in den Köpfen ängstlicher Zeitgenossen. Hin und wieder in Leserbriefen als Frage. Auf den Titelseiten dauernd. Drohendes Unheil. Rezepte zur Rettung inklusiv. Steigert die Auflage. Senkt das Niveau. Angst und Spaß gleichzeitig eine Schimäre?
Sehe zwei Angsthasen den Kopf senken und verschwinden. Als drücke sie ein schlechtes Gewissen. Will sie fragen. Weg sind sie.
All das will ich in einem Gedicht formulieren. Hänge schon bei dem Gedanken daran fest. Mich friert … weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Oder anfangen. Greife zum Block, fische den Kugelschreiber aus den Tiefen der Hemdentasche. Zögere. Schreibe:
„du hast den Schrein aus Stein ins Artischokenfeld gestellt – Erzengel – Wolken darüber gehäuft und Stille – bevor dich ein größerer Wille – das Jüngste Gericht entfesseln liess – an der Innenwand – dieses Gebirge aus Zuversicht und hunderttausend Splittern Angst – am Übergang zwischen den Welten“
Rose holt mich aus meinem Dichterhimmel. „Lasst uns in die Locanda gehen.“ Küsschen. Frauen sind realistischer als Männer. Unterscheiden, was wirklich ist oder Fantasie. Der gedünstete Lachs in der Locanda jedenfalls schmeckt wie gedünsteter Lachs.
Später am Abend. Das ‚Jüngste Gericht’ will nicht aus meinem Kopf. Ist nicht jeder Tag der jüngste? Finden nicht jeden Tag jüngste Gerichte statt? Millionen sterben. Weil Teufel Engel in die Brennkammern schicken. Nicht umgekehrt wie im Mosaik. Die Bilder von allem sind in unseren Köpfen. Unlösbar eingeprägt wie Steinchen in Zement. Sie sind ein Teil von uns.
AMALFI – Zitronen sind nicht sauer
Meine Rose war schon acht Mal in Amalfi. Mit Söhnlein Christian und Basset Bonny. Immer per Auto. Zwei Mal mit dem kleinen Alfa-Romeo, der auch zwei Mal auf halber Strecke streikte. Aber sie liebte diesen kleinen Flitzer. Das grünschwarze italienische Kabriolet. Bis Reparaturen zu teuer wurden. Nichts hielt sie davon ab, mit dem Kleinen die mehr als zweitausend Kilometer über den Brenner ins sonnige Italien zu juckeln. Einmal Pause in Alpennähe. Der Mercedes später nicht so lustig, aber zuverlässig.
Mir ist eine solche Tortour nicht geheuer. Noch nie so lange gefahren an einem Stück. Die längste Strecke bisher von Düsseldorf nach Arhus in Dänemark. Vielleicht etwas mehr als tausend Kilometer. Mit Pause in Flensburg. Aber Italien kenne ich nicht. Rose erzählt begeistert von Andrea, dem noblen Empfangschef. Salvatore, dem väterlich allzeit bereiten Oberkellner. Und Signora Barbaro, der erzählfreudigen Inhaberin, die vom Rollstuhl aus alles souverän dirigiert.
Alle sind wichtige