Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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Die Zeiger schlichen auf ihrem stetigen Weg weiter um das Zifferblatt der Uhr und zeigten auf zehn Minuten vor neun, als ein weiteres Familienmitglied auf den Stufen erschien: Miss Garth, die Gouvernante.
Aufmerksame Augen konnten keinen Blick auf Miss Garth werfen, ohne sofort zu bemerken, dass sie aus dem Norden des Landes kam. Ihr Gesicht mit seinen harten Zügen; ihre männlich-gewandten, entschiedenen Bewegungen; ihre hartnäckige Rechtschaffenheit in Aussehen und Manieren – all das kündete von ihrer Geburt und Ausbildung an der Grenze. Sie war kaum über vierzig Jahre alt, und doch waren ihre Haare ganz grau; darüber trug sie die schlichte Kappe einer alten Frau. Weder ihre Haare noch ihre Frisur ließen den Einklang mit dem Gesicht vermissen: Es sah älter aus, als es ihren Jahren entsprach – die harte Hand des Kummers hatte es zu irgendeiner früheren Zeit gekerbt. Die Selbstbeherrschtheit, mit er sie treppab ging, und die Ausstrahlung einer gewohnheitsmäßigen Autorität, mit der sie sich umsah, sprachen für ihre gefestigte Stellung in Mr. Vanstones Familie. Diese Frau gehörte offensichtlich nicht zur Kategorie der verlorenen, verfolgten, bedauernswert abhängigen Gouvernanten. Vielmehr war sie eine Dame, die unter gesicherten, ehrenvollen Bedingungen bei ihren Arbeitgebern lebte – eine Frau, die aussah, als könne sie allen Eltern in England die Meinung sagen, wenn sie nicht ihrem wahren Wert entsprechend eingeschätzt wurde.
„Frühstück um zehn?“, wiederholte Miss Garth, als der Hausdiener auf ihr Läuten herbeigekommen war und die Anordnung seines Herrn erwähnt hatte. „Ha! Ich habe mich schon gefragt, was bei dem Konzert gestern Abend herauskommen würde. Wenn Leute, die auf dem Land leben, öffentliche Vergnügungen aufsuchen, geben die Vergnügungen die Ehre zurück, indem sie das Familienleben anschließend tagelang durcheinander bringen. Sogar Sie sind durcheinander, Thomas. Ich sehe, dass Ihre Augen so rot sind wie die eines Frettchens, und Ihre Krawatte sieht aus, als hätten Sie damit geschlafen. Bringen Sie den Tee um Viertel vor zehn – und wenn es Ihnen im Laufe des Tages nicht besser geht, kommen Sie zu mir, dann gebe ich Ihnen eine Dosis Arznei. Das ist ein gutmütiger Bursche, man muss ihn nur in Ruhe lassen“, fuhr Miss Garth im Selbstgespräch fort, nachdem Thomas sich zurückgezogen hatte, „aber für Konzerte zwanzig Meilen weit weg ist er nicht kräftig genug. Gestern Abend wollten sie sogar, dass ich mitkomme. Das hätte mir gerade noch gefehlt!“
Es schlug neun, und der Minutenzeiger wanderte noch zwanzig Minuten über die Stunde, bevor wieder Schritte auf der Treppe zu hören waren. Am Ende dieser Zeit erschienen zwei Damen und gingen gemeinsam hinunter zur Frühstücksraum: Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter.
Wenn die persönliche Anziehungskraft von Mrs. Vanstone in einer früheren Phase ihres Lebens ausschließlich auf ihren urenglischen Reizen der Gesichtsfarbe und Frische beruht hatten, so musste sie die letzten Überreste ihres hübscheren Ich schon lange verloren haben. Aber als junge Frau hatte sie mit ihrer Schönheit die Grenzen des nationalen Durchschnitts übertroffen, und die Vorteile ihrer außerordentlichen persönlichen Gaben hatte sie sich bewahrt. Obwohl sie jetzt in ihrem vierundvierzigsten Jahre war; und obwohl sie in vergangenen Zeiten unter dem Verlust mehr als eines Kindes und langwierigen Krankheitsanfällen, welche auf solche Heimsuchungen gefolgt waren, gelitten hatte, waren ihr die ebenmäßigen Proportionen und die subtile Feinheit der Gesichtszüge erhalten geblieben, die sich einst mit einer Helligkeit und Frische der Schönheit verbunden hatten, welche nie mehr wiederkehren sollten. Ihr ältestes Kind, das jetzt an ihrer Seite die Treppe herunterkam, war der Spiegel, durch den sie zurückblicken und den Widerschein ihrer eigenen Jugend sehen konnte. Dort, dicht gewunden auf dem Kopf der Tochter, lagen die üppigen schwarzen Haare, die auf dem Haupt der Mutter schnell ergrauten. Dort, auf den Wangen der Tochter, glimmte das liebliche dunkle Rot, das auf denen der Mutter verblichen war, um nie wieder aufzublühen. Miss Vanstone hatte bereits die erste Reife des Frauseins erreicht; sie hatte ihr sechsundzwanzigstes Jahr vollendet. Auch wenn sie den dunkel-majestätischen Charakter der Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte, so besaß sie doch nicht alle ihre Reize. Die Form des Gesichts war zwar die gleiche, ihre Züge waren aber nicht ganz so zart, ihre Proportionen nicht ganz so ebenmäßig. Sie war nicht so groß. Sie hatte die dunkelbraunen Augen ihrer Mutter – voll und weich, mit dem stetigen Glühen, das Mrs. Vanstones Augen verloren hatten –, und doch war in ihrem Ausdruck weniger Interesse, weniger Feinheit und Gefühlstiefe: Er war sanft und weiblich, aber umwölkt von einer gewissen stillen Zurückhaltung, von der das Gesicht ihrer Mutter frei war. Wenn wir es wagen, genau genug hinzusehen, beobachten wir dann nicht oftmals, dass die moralische Charakterstärke und die höheren geistigen Fähigkeiten der Eltern sich während der Weitergabe an die Kinder auf rätselhafte Weise abnutzen? Ist es in unserer Zeit der heimtückischen nervösen Erschöpfung und der unterschwellig fortschreitenden nervösen Leiden nicht möglich, dass die gleiche Regel weniger selten, als wir einzuräumen bereit sind, auch auf die körperlichen Gaben zutrifft?
Gemeinsam schritten Mutter und Tochter langsam die Treppe herunter – erstere in dunkles Braun gekleidet und mit einem um die Schultern geworfenen indischen Schal, die zweite einfacher schwarz gewandet, mit schlichtem Kragen und Manschetten sowie einem orangefarbenen Band über der Brust ihres Kleides. Als sie die Halle durchquerten und das Frühstückszimmer betraten, war Miss Vanstone erfüllt von dem faszinierenden Thema des gestrigen Konzerts.
„Es ist so schade, dass du nicht mitgekommen bist, Mama“, sagte sie. „Seit dem letzten Sommer warst du immer so kräftig, und es ging dir so gut – du fühlst dich um Jahre jünger, das hast du selbst gesagt – und ich bin sicher, die Anstrengung wäre nicht zu viel für dich gewesen.“
„Vielleicht nicht, mein Liebes, aber es war gut, auf der sicheren Seite zu sein.“
„Ganz recht“, bemerkte Miss Garth, die an der Tür des Frühstückszimmers erschienen war. „Sehen Sie sich nur Norah an (guten Morgen, meine Liebe) – ich sage nur: Sehen Sie sich Norah an. Ein völliges Wrack; der lebende Beweis, wie klug es von Ihnen und mir war, zu Hause zu bleiben. Das abscheuliche Gas, die stickige Luft, die späte Uhrzeit – was soll man da erwarten? Sie ist nicht aus Eisen, und entsprechend leidet sie. Nein, meine Liebe, Sie brauchen es gar nicht abzustreiten. Ich sehe doch, dass Sie Kopfschmerzen haben.“
Norahs dunkles, hübsches Gesicht hellte sich zu einem Lächeln auf – um sich dann wieder mit der gewohnten stillen Zurückhaltung zu verdüstern.
„Ein ganz klein wenig Kopfschmerzen; nicht halb so viel, als dass ich das Konzert bereuen würde“, sagte sie und ging allein zum Fenster.
Jenseits eines Gartens und einer Pferdekoppel reichte der Blick bis zu einem Bach, einigen Bauernhäusern dahinter und der Mündung eines bewaldeten, felsigen Passes (den man in Somersetshire Combe nennt), der sich durch die Hügel, die das Panorama abschlossen, hindurchzog. In nicht allzu großer Entfernung, inmitten der gewellten, offenen Landschaft, war ein gewundenes Stück Straße zu sehen; und entlang dieses Stücks erkannte man jetzt ohne Weiteres die stattliche Gestalt von Mr. Vanstone, der von seinem Morgenspaziergang nach Hause kam. Als er seine älteste Tochter am Fenster sah, schwenkte er fröhlich seinen Stock. Sie nickte und antwortete ihrerseits mit einem anmutigen, hübschen Winken – aber in ihrem Betragen lag eine gewisse altmodische Förmlichkeit, was bei einer so jungen Frau seltsam wirkte und nicht im Einklang mit der Begrüßung zu stehen schien, die sie an ihren Vater richtete.
Die Uhr in