Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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Читать онлайн книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз страница 6
„Was kann denn da passiert sein?“, flüsterte Norah, als sie die Tür des Frühstückszimmers schlossen und durch die Halle gingen.
„Was bedeutet das, dass Papa sauer auf mich ist?“ rief Magdalen, die sich in ihrem eigenen Gefühl der Verletzung verzehrte.
„Darf ich fragen, welches Recht ihr habt, euch in die Privatangelegenheiten eures Vaters einzumischen?“, versetzte Miss Garth.
„Recht?“, fragte Magdalen. „Ich habe keine Geheimnisse vor Papa – was sind das für Angelegenheiten, die Papa vor mir geheim halten muss? Ich fühle mich beleidigt.“
„Wenn du in Betracht ziehen würdest, dass du zu Recht zurückgewiesen wurdest, weil du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten gekümmert hast, wärest du der Wahrheit ein Stückchen näher“, sagte Miss Garth geradeheraus. „Ach, du bist wie alle anderen Mädchen heutzutage. Unter euch weiß nicht einmal eine von hundert, wo oben und wo unten ist.“
Die drei Damen traten ins Wohnzimmer; Magdalen würdigte Miss Garth’ Zurechtweisung, indem sie die Tür zuknallte.
Eine halbe Stunde verging, und weder Mr. Vanstone noch seine Frau kamen aus dem Frühstückszimmer. Der Diener, der nicht wusste, was vorgefallen war, ging hinein, um den Tisch abzuräumen. Er fand seinen Herrn und seine Herrin dicht nebeneinander sitzend in ernster Beratung – und ging sofort wieder hinaus. Noch einmal verging eine Viertelstunde, dann öffnete sich die Tür des Frühstückszimmers; die private Besprechung von Ehemann und Ehefrau war zu Ende.
„Ich höre Mama in der Halle“, sagte Norah. „Vielleicht kommt sie und will uns etwas sagen.“
Während ihre Tochter noch sprach, trat Mrs. Vanstone ins Wohnzimmer. Die Farbe ihrer Wangen war kräftiger, und in ihren Augen glitzerte das Leuchten halb getrockneter Tränen; ihr Schritt war hastiger, alle ihre Bewegungen waren schneller als gewöhnlich.
„Ich habe euch etwas zu sagen, was euch überraschen wird“, sagte sie, an ihre Töchter gewandt. „Euer Vater und ich fahren morgen nach London.“
Magdalen griff in sprachlosem Erstaunen nach dem Arm ihrer Mutter. Miss Garth ließ ihre Handarbeit in den Schoß fallen; sogar die ruhige Norah sprang auf und wiederholte verblüfft die Worte „fahren nach London“.
„Ohne uns?“, wollte Magdalen wissen.
„Euer Vater und ich fahren allein“, sagte Mrs. Vanstone. „Vielleicht für drei Wochen, aber nicht länger. Wir fahren…“ sie zögerte, „…in einer wichtigen Familienangelegenheit. Lass’ mich los, Magdalen. Die Notwendigkeit hat sich plötzlich ergeben. Ich habe noch viel zu tun, viele Dinge zu regeln bis morgen. Ja, ja, mein Liebes, lass’ mich los.“
Sie zog ihren Arm weg, küsste ihre jüngste Tochter eilig auf die Stirn und verließ sofort das Zimmer. Sogar Magdalen sah ein, dass sie ihre Mutter nicht zwingen konnte, sich irgendetwas anzuhören oder weitere Fragen zu beantworten.
Der Vormittag zog sich hin, aber von Mr. Vanstone war nichts zu sehen. Mit der rücksichtslosen Neugier ihres Alters und Charakters fasste Magdalen den Entschluss, sich über das Verbot von Miss Garth und die Vorhaltungen ihrer Schwester hinwegzusetzen, ins Arbeitszimmer zu gehen und dort nach ihrem Vater zu suchen. Sie drückte auf die Klinke, aber die Tür war von innen verschlossen. „Ich bin’s nur, Papa“, sagte sie uns lauschte auf eine Antwort. „Ich habe zu tun, mein Liebes“, kam es zurück. „Störe mich nicht.“
Mrs. Vanstone war auf eine andere Art ebenso verschlossen. Sie blieb, die Dienerinnen um sich, in ihrem Zimmer und stürzte sich in endlose Vorbereitungen für die bevorstehende Abreise. Die Dienerinnen waren plötzliche Entschlüsse und unerwartete Befehle in der Familie kaum gewohnt; unbeholfen und verwirrt befolgen sie die Anweisungen. Sie liefen unnötigerweise von Zimmer zu Zimmer und verloren sowohl Zeit als auch Geduld, wenn sie sich auf der Treppe gegenseitig anrempelten. Wäre ein Fremder an jenem Tag ins Haus gekommen, er hätte sich ausmalen können, dass eine unerwartete Katastrophe eingetreten war und nicht nur eine unerwartete Notwendigkeit, nach London zu reisen. Nichts folgte dem üblichen Tagesablauf. Magdalen war es eigentlich gewohnt, den Vormittag am Klavier zu verbringen, aber jetzt wanderte sie rastlos durch die Treppenhäuser und Korridore, ging durch die Türen hinein und hinaus, wenn sich nur der Anflug schönen Wetters zeigte. Norah, deren Leselust in der Familie in ein Sprichwort eingeflossen war, nahm ein Buch nach dem anderen vom Tisch und vom Regal, nur um sie nach dem verzweifelten Versuch, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, wieder hinzulegen. Selbst Miss Garth spürte den alles durchdringenden Einfluss der häuslichen Unordnung und setzte sich allein an das Feuer im Wohnzimmer, schüttelte ahnungsvoll den Kopf und ließ die Handarbeit neben sich liegen.
„Familienangelegenheiten?“, fragte sie sich, als sie über Mrs. Vanstones unbestimmte erklärende Worte nachgrübelte. „Ich wohne jetzt seit zwölf Jahren auf Combe-Raven; und das hier sind nach meiner Erfahrung die ersten Familienangelegenheiten, die zwischen die Eltern und Kinder getreten sind. Was hat das zu bedeuten? Veränderungen? Ich glaube, ich werde alt. Ich mag keine Veränderungen.“
Kapitel 2
Am nächsten Morgen um zehn Uhr standen Norah und Magdalen allein in der Halle von Combe-Raven und sahen zu, wie die Kutsche abfuhr, die ihren Vater und ihre Mutter zum Zug nach London bringen sollte.
Beide Schwestern hatten bis zum letzten Augenblick auf eine Erklärung über jene rätselhafte „Familienangelegenheit“ gehofft, auf die Mrs. Vanstone am Tag zuvor so knapp angespielt hatte. Aber eine solche Erklärung war nicht gegeben worden. Selbst die Aufregung des Abschieds unter Umständen, die in der häuslichen Erfahrung von Eltern und Kindern etwas völlig Neues waren, hatten die entschlossene Diskretion von Mr. und Mrs. Vanstone nicht ins Wanken gebracht. Sie waren abgefahren – mit dem wärmsten Zeugnis der Zuwendung, mit Abschiedsumarmungen, welche leidenschaftlich immer aufs Neue wiederholt wurden, aber von Anfang bis Ende hatten sie kein Wort darüber verloren, um was für einein Vorhaben es sich handelte.
Als das knirschende Geräusch der Wagenräder an einer Straßenbiegung plötzlich verstummte, blickten die Schwestern einander ins Gesicht; beide empfanden und verrieten – jede auf ihre eigene Weise – das trübsinnige Gefühl, zum ersten Mal ganz offenkundig aus dem Vertrauen ihrer Eltern ausgeschlossen zu sein. Norahs übliche Zurückhaltung verstärkte sich und wurde zu einem mürrischen Schweigen – sie setzte sich auf einen der Stühle in der Halle und blickte mit gerunzelter Stirn durch die offene Haustür. Magdalen brachte wie immer, wenn ihr Temperament in Wallung geriet, ihre Unzufriedenheit mit unverblümten Worten zum Ausdruck. „Mich kümmert es nicht, wer es weiß – ich finde, mit uns beiden ist schändlicher Schindluder getrieben worden!“ Nach diesen Worten folgte die junge Dame dem Beispiel ihrer Schwester, setzte sich auf einen Stuhl in der Halle und blickte ziellos durch die offene Haustür nach draußen.
Fast im gleichen Augenblick trat Miss Garth aus dem Wohnzimmer in die Halle. Eine schnelle Beobachtung zeigte ihr, dass es notwendig war, sich aus praktischen Erwägungen einzumischen; und ihr stets verfügbarer gesunder Menschenverstand wies ihr sofort den Weg.
„Passt mal auf, ihr beiden, seid so nett und hört mir zu“, sagte Miss Garth. „Wenn wir es jetzt, wo wir allein sind, alle drei zusammen angenehm und glücklich haben wollen, müssen wir bei unseren üblichen Gewohnheiten bleiben und auf die übliche Weise weitermachen. Das ist, in kurzen Worten, der Stand der Dinge. Findet euch mit der Situation ab, wie die Franzosen sagen. Ich werde euch ein Beispiel geben. Ich habe gerade zur üblichen Zeit ein hervorragendes Abendessen bestellt.