Die Namenlosen. Уилки Коллинз

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз страница 8

Die Namenlosen - Уилки Коллинз

Скачать книгу

sie spürte, wie die Reserven ihrer Höflichkeit schnell zur Neige gingen.

      „Ist sie zu Hause?“

      „Nein.“

      „Ist sie lange fort?“

      „Sie ist mit Mr. Vanstone nach London gefahren.“

      Das lange Gesicht des Mannes wurde plötzlich noch länger. Sein gallebraunes Auge blickte verdutzt drein, und das gallegrüne Auge folgte dem Beispiel. Sein Betragen wurde spürbar ängstlicher, und seine Worte wählte er noch sorgfältiger als zuvor.

      „Wird sich Mrs. Vanstones Abwesenheit über einen längeren Zeitraum erstrecken?“, erkundigte er sich.

      „Sie wird sich über drei Wochen erstrecken“, antwortete Mrs. Garth. „Ich glaube, Sie haben jetzt genug Fragen gestellt“, fuhr sie fort, wobei sie zuließ, dass die Gereiztheit immer mehr Besitz von ihr ergriff. „Wenn es Ihnen beliebt, seien Sie doch so freundlich, Ihre Anliegen und Ihren Namen zu nennen. Wenn Sie Mrs. Vanstone eine Nachricht zu hinterlassen wünschen, werde ich ihr noch heute mit der Abendpost schreiben und mich darum kümmern.“

      „Tausend Dank! Ein höchst wertvoller Vorschlag. Gestatten Sie mir, sofort Gebrauch davon zu machen.“

      Der Mann ließ sich durch Mrs. Garth’ strenge Blicke und Worte nicht im Mindesten beirren – er war durch ihren Vorschlag einfach erleichtert und zeigte es mit höchst gewinnender Aufrichtigkeit. Dieses Mal ergriff sein gallegrünes Auge die Initiative und wurde für das gallebraune Auge zu einem Vorbild der wiedergewonnenen Gelassenheit. Seine gekräuselten Lippen vollführten eine neue Biegung nach oben; er klemmte seinen Regenschirm forsch unter den Arm und brachte aus der Innentasche seines Mantels ein großes, altmodisches schwarzes Notizbuch zum Vorschein. Diesem entnahm er einen Bleistift und eine Karte. Er zögerte und dachte einen kurzen Moment nach, schrieb schnell etwas auf die Karte und legte sie mit der höflichsten Eilfertigkeit Miss Garth in die Hand.

      „Ich werde mich Ihnen persönlich verpflichtet fühlen, wenn Sie mir die Ehre erweisen, diese Karte Ihrem Brief beizufügen“, sagte er. „Es besteht keine Notwendigkeit, Ihnen zusätzlich Mühe mit einer Nachricht zu machen. Mein Name wird völlig ausreichen, um Mrs. Vanstone eine kleine Familienangelegenheit ins Gedächtnis zu rufen, die ihrer Erinnerung zweifellos entfallen ist. Bitte nehmen Sie meinen besten Dank entgegen. Dies war für mich ein Tag der angenehmen Überraschungen. Ich habe das Land hierherum bemerkenswert hübsch vorgefunden; ich habe die beiden liebenswürdigen Töchter von Mrs. Vanstone gesehen; ich habe die Bekanntschaft einer ehrenwerten Lehrerin aus Mr. Vanstones Familie gemacht. Ich gratuliere mir selbst – ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihre kostbare Zeit beansprucht habe – ich versichere Sie noch einmal meiner Dankbarkeit – ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.“

      Er lüftete den hohen Hut. Sein braunes Auge blinzelte, sein grünes Auge blinzelte, seine gekräuselten Lippen lächelten liebenswürdig. Im nächsten Augenblick machte er auf dem Absatz kehrt. Sein jugendlicher Rücken gereichte ihm zum größten Vorteil; die lebhaften kleinen Beine trugen ihn trippelnd in Richtung des Dorfes davon. Eins, zwei drei – und er erreichte die Straßenbiegung. Vier, fünf, sechs – und weg war er.

      Miss Garth sah hinunter auf die Karte in ihrer Hand und hob den Blick wieder in blankem Erstaunen. Name und Adresse des geistlich aussehenden Fremden (beides mit Bleistift geschrieben) lauteten: Captain Wragge. Postamt, Bristol.

      Als Miss Garth zum Haus zurückkehrte, unternahm sie keinen Versuch, ihre unvorteilhafte Meinung über den schwarz gekleideten Fremden zu verbergen. Sein Ziel bestand zweifellos darin, finanzielle Unterstützung von Mrs. Vanstone zu erlangen. Welcher Art sein Anspruch gegen sie sein mochte, war weniger leicht zu begreifen – es sei denn, es war der Anspruch eines armen Verwandten. Hatte Mrs. Vanstone jemals in Gegenwart ihrer Töchter den Namen von Captain Wragge erwähnt? Keine von beiden konnte sich erinnern, ihn schon einmal gehört zu haben. Hatte Mrs. Vanstone jemals einen armen Verwandten erwähnt, der von ihr abhängig war? Im Gegenteil: In den letzten Jahren hatte sie davon gesprochen, sie habe Zweifel, ob sie überhaupt Verwandte hätte, die noch am Leben seien. Und doch hatte Captain Wragge unverblümt erklärt, der Name auf der Karte werde Mrs. Vanstone „eine Familienangelegenheit“ ins Gedächtnis rufen. Was hatte das zu bedeuten? Eine Falschaussage auf Seiten des Fremden, die er ohne erkennbaren Grund gemacht hatte? Oder ein zweites Rätsel, das der rätselhaften Reise nach London auf dem Fuße folgte?

      Aller Wahrscheinlichkeit nach bestand eine verborgene Verbindung zwischen der „Familienangelegenheit“, die Mr. und Mrs. Vanstone so plötzlich von zuhause abberufen hatte, und der „Familienangelegenheit“, die sich mit dem Namen von Captain Wragge verband. Alle Zweifel stürzten erneut unwiderstehlich auf Miss Garth’ Geist ein, als sie ihren Brief an Mrs. Vanstone, dem sie die Karte des Captain beigefügt hatte, versiegelte.

      Mit der nächsten Post traf die Antwort ein.

      Als der Brief gebracht wurde, war Miss Garth, die sich von den Damen des Hauses morgens stets als erste erhob, allein im Frühstückszimmer. Ein erster Blick auf den Inhalt überzeugte sie von der Notwendigkeit, das Schreiben sorgfältig und in Ruhe durchzulesen, bevor man ihr peinliche Fragen stellen konnte. Nachdem sie dem Diener eine Nachricht hinterlassen und Norah darin gebeten hatte, heute Morgen den Tee zu machen, begab sie sich umgehend nach oben in die Abgeschiedenheit und Geborgenheit ihres Zimmers.

      Mrs. Vanstones Brief zog sich über eine beträchtliche Länge hin. Der erste Teil handelte von Captain Wragge und gab rückhaltlos alle notwendigen Erklärungen über den Mann selbst und das Motiv, das ihn nach Combe-Raven geführt hatte.

      Aus Mrs. Vanstones Ausführungen ging hervor, dass ihre Mutter zweimal verheiratet gewesen war. Der erste Ehemann war ein gewisser Doktor Wragge gewesen – ein Witwer mit kleinen Kindern; eines dieser Kinder war heute der so gar nicht militärisch aussehende Captain, dessen Adresse „Postamt Bristol“ lautete. Mrs. Wragge hatte mit ihrem ersten Mann keine Familie hinterlassen, und später hatte sie den Vater von Mrs. Vanstone geheiratet. Der einzige Spross dieser zweiten Ehe war Mrs. Vanstone selbst. Sie hatte beide Eltern verloren, als sie noch eine junge Frau war, und im Laufe der Jahre waren ihr die Angehörigen ihrer Mutter (die nun ihre nächsten lebenden Verwandten waren) einer nach dem anderen durch den Tod genommen worden. Jetzt, da sie diesen Brief schrieb, war sie auf der ganzen Welt ohne lebende Verwandte – vielleicht mit Ausnahme gewisser Cousins, die sie nie gesehen hatte und über deren Existenz sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine sichere Kenntnis besaß.

      Welchen familiären Anspruch hatte Captain Wragge unter diesen Umständen gegenüber Mrs. Vanstone?

      Nicht den geringsten. Als Sohn des ersten Ehemannes ihrer Mutter und der ersten Frau dieses Ehemannes hätte man ihn beim besten Willen nicht in die Liste der weitläufigen Verwandten von Mrs. Vanstone aufnehmen können. Obwohl er das genau wusste (so fuhr der Brief fort), hatte er sich ihr hartnäckig als eine Art Familienangehöriger aufgedrängt; in ihrer Schwäche hatte sie die Aufdringlichkeit geduldet, und zwar allein auf Grund der Drohung, er werde sich sonst bei Mr. Vanstone zur Kenntnis bringen und schamlos Vorteil aus dessen Großzügigkeit ziehen. Natürlich war sie vor dem Gedanken zurückgeschreckt, ihr Mann könne von einer Person, die eine – wenn auch absurde – Behauptung über eine familiäre Verbindung zu ihr aufstellte, belästigt und womöglich auch betrogen werden. Deshalb unterstützte sie den Captain schon seit vielen Jahren aus ihrer eigenen Schatulle, allerdings unter der Bedingung, dass er nie in die Nähe des Hauses kam und sich nie erdreistete, eine wie auch immer geartete Forderung an Mr. Vanstone zu stellen.

      Mrs. Vanstone räumte bereitwillig ein, ihre Handlungsweise sei unklug gewesen, und erläuterte dann, sie habe vielleicht auch deshalb zu einem solchen Vorgehen geneigt, weil sie es in ihren jungen Jahren immer gewohnt

Скачать книгу