DIE REICHE VON ITHOR. Martin Cordemann
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Er verbrachte Stunden damit, die Berge, die die Ruine umgaben, zu erklimmen. Doch da war nichts. Kein Krater, keine Reste von Lava, keinerlei Anzeichen eines Vulkans. Mehr noch, der Schnee und das Eis, welche das ehemalige Bauwerk umgaben, schienen nur an wenigen Stellen geschmolzen zu sein. Lediglich in unmittelbarer Umgebung der Trümmer hatte sich eine dünne Schneedecke über den durch Hitze freigelegten Fels gelegt, doch auch die Schneedecke war schon wenige Fuß von den Mauerresten wieder so, als wäre hier nichts passiert.
Ron fluchte laut vor sich hin. Er war allein in dieser Einöde, und er wusste nicht, wie er auf die Situation, die er vorgefunden hatte, reagieren sollte. Wer zerstörte ein Kloster? Nein, wie zerstörte man ein Kloster? Nein! Die Fragen waren: Was zerstörte ein Kloster? Und, wenn es ein Wer war, warum tat er das?
„Die Götter“, murmelte er. Das war… die Erklärung, die ihm am wenigsten genehm war. Sollte an den Gerüchten wirklich etwas dran sein? „Nein“, sagte er bei sich. Er weigerte sich, das zu glauben. Auch wenn es ganz so schien, als wäre dies die Handschrift der Götter. Rachsüchtiger Götter, die sich für ihre Vertreibung revanchieren wollten. Es passte alles ins Bild…
„Nein“, widersprach er sich. Nicht alles passte ins Bild. Da waren noch die Schiffe ohne Besatzung. Wie sollten die in Zusammenhang mit den Göttern stehen? Ron schluckte. Bis er keinen handfesten Beweis vorfand, d.h. bis ihm keiner der Götter persönlich über den Weg lief und ihn von seiner Göttlichkeit überzeugte, würde er nach einer weltlichen Lösung suchen und diese übernatürliche ausschließen.
Wieder kam ihm der Gedanke eines Ablenkungsmanövers. Einer Finte. Jeder kannte die Vergangenheit, die das Volk der Kelldor mit den Göttern verband. Jedenfalls nahm er das an. Jedenfalls hatten sie nie ein Hehl daraus gemacht. Im Gegenteil, in Schlachten hatten sie darauf aufmerksam gemacht, dass man bereits die Götter erschlagen hatte, also wie viel Angst sollten sie nun vor menschlichen Feinden haben? Ein Gegner, ein schlauer Gegner, könnte ihre Historie mit den Göttern ausnutzen und so versuchen, Ängste zu schüren, die möglicherweise tief verborgen in ihnen lagen. Oder er wollte sie verwirren, bevor er an einem Ort zuschlug, mit dem niemand rechnete. Oder er…
Ron sah die Trümmer an. Sie waren inzwischen erkaltet, aber er konnte sich vorstellen, wie heiß sie gewesen sein mussten.
…er wollte eine neue Waffe ausprobieren. Eine tödliche Waffe, die alles vernichten konnte.
Es war eine Vorstellung, die Ron ebenfalls erschreckte. Wenn jemand eine solche Waffe besaß, dann…
Er sah sich um.
…musste er sie irgendwie hierher befördert haben. Etwas, das ein solches Feuer erzeugen konnte, musste riesig sein. Man hätte eine Schneise durch den Wald schlagen müssen, um es bis an das Kloster heran zu bringen.
Wieder lief er über die kargen Hügel. Bis hinunter zur Baumgrenze. Suchte alles ab. Doch er fand nichts. Nichts, das auf die Existenz eines riesigen Gefährtes schließen ließ. Betrübt ging er zurück zu den Überresten des Klosters. Er musste sich eingestehen, dass er nichts herausgefunden hatte. Er wusste lediglich, was nicht passiert war. Er wusste nichtmal, ob alle Mönche gestorben waren, oder ob sie… Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Vielleicht hatten sie das Kloster ja verlassen, bevor passiert war, was auch immer hier passiert war. Vielleicht hatten sie sich in Sicherheit bringen können. Oder man hatte sie gefangen genommen? Wenn es so war, dann musste er sie finden, denn nur sie konnten ihm Aufschluss darüber geben, was hier passiert war. Wenn sie nicht alle in einen tiefen Schlaf gefallen waren, wie der Mann, den sie aufgenommen hatten…
Ron Schwert blieb stehen. War er da gerade auf das Warum gestoßen? War all das vielleicht wegen dieses Mannes passiert? War er… ein Gott, der sich krank gestellt hatte, um in die Mauern des Klosters zu kommen und hatte dann mit seiner göttlichen Kraft alle getötet? War er auf der Flucht vor den Göttern, und sie hatten ihn bis hierher verfolgt? Oder war er lediglich jemand, der zuviel gesehen hatte, von einer feindlichen Streitmacht mit einer phantastischen Waffe, und man hatte ihn ausgeschaltet, damit er sein Wissen nicht mit anderen teilen konnte? Es gab viele Möglichkeiten, aber Ron war zu müde, um sie alle im Geiste durchzuspielen. Er suchte sich eine kleine Höhle und schlug sein Quartier für die Nacht auf. Am nächsten Morgen würde er weitersuchen.
In der fernen Sommerresidenz hatte König Zweitgeborn derweil eine Nachrichtenmöwe von Ron Schwert erhalten. Er war gerade dabei, seinen Dienern dabei zuzusehen, wie sie sein Gepäck in die Fuhrwerke verluden, denn in Zeiten, in denen Schiffe ohne Besatzung vor ihrer Küste auftauchten, war es vielleicht besser, wenn sich der König in der Hauptstadt aufhielt, als die Möwe sie erreichte und ihm einer seiner Untergebenen, Hans Möwenträger, die Nachricht brachte, die die Möwen über hunderte von Meilen transportiert hatten. Schwert schlug vor, ein Schiff zum Seevolk zu schicken, um die Lage zu erkunden. Es sollte herausfinden, ob von dort Gefahr ausging – oder ob das Volk überhaupt noch existierte. Der König nickte zustimmend (der Schriftrolle in seiner Hand zu) und ließ nach dem Kapitän des schnellsten Schiffes schicken.
Wenig später betrat Stan Kapitän (geborener Stan Seemannsssn, aus dem Stan Schiffsjunge, Stan Kadett, Stan Maat, Stan Smutje, Stan Fähnrich, Stan Leutnant, Stan Degradierter Fähnrich und letztlich doch noch Stan Kapitän geworden war) die Residenz. Der König trug ihm vor seiner Abreise in die Hauptstadt auf, eine Reise in den Süden zu machen und herauszufinden, was sich dort tat, aber ohne Aufsehen zu erregen, am besten, ohne gesehen zu werden. Dann reiste er mit seinem Gefolge ab – und das Schiff des Kapitäns lief in der Mittagsstunde des nächsten Tages aus, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Von der obersten Zinne der Sommerresidenz, das wusste Anna Schwert, denn sie war einmal an ihr empor geklettert, konnte man die weißen Gipfel der Eisernen Berge sehen, wenn man nach Südosten blickte. Es war ein großes Gebirge, das Vant ebenso zwischen Nord und Süd trennte, wie es die Große Mauer viele Meilen weiter im Norden tat.
Jenseits des Gebirges sollte alles grün sein, hatte sie gehört. Dort gab es Felder, fruchtbare Böden, Wälder, Seen, Flüsse und Burgen. Es musste eine wunderbarer Anblick sein, stellte sie sich vor. Von den Füßen der schneebedeckten Berge bis hin zur Mauer, von der Westküste bis zur Ostküste. Sie seufzte. All das lag in weiter Ferne und fühlte sich unerreichbar an. Denn sie befand sich an der Südöstlichen Küste Kelldors, ließ sich die heiße Sonne ins Gesicht scheinen und genoss den Anblick der Pyramiden.
Sie waren vor Urzeiten errichtet wurden, warum, darüber gab es viele Geschichten. Als Basis für einen Turm, der bis zum Himmel reichen sollte. Als Zeichen für die Götter, dass ihre Zeit abgelaufen war, da sie gemeinsam eine Warnung an sie boten, die man aber nur vom Himmel selbst aus erkennen konnte und die den normalen Menschen somit auf ewig unsichtbar bleiben würde. Vielleicht auch als riesige Grabmähler für Fürsten, denen es im Tod besser gehen sollte als ihren Untertanen im Leben. Niemand schien es zu wissen – und es war zu heiß, um der Frage wirklich nachzugehen.
Von ihrem jetzigen Standpunkt aus konnte sie die Berge, selbst wenn sie sich auf die Fußspitzen stellte, die Augen zusammenkniff und ganz angestrengt nach Norden blickte, nicht sehen, dafür waren sie einfach zu weit entfernt. Oft träumte sie davon, die Wüste zu verlassen, die Gebirge zu bewältigen und dann endlich die Grünen Weiten mit eigenen Augen zu erblicken. Wie mochte das sein, Grün, so weit das Auge reichte? Das gab es hier nicht. Sie hatte noch nie so viel grün gesehen. Ihre Welt wurde bestimmt von der Farbe des Sandes und hier und da ein wenig Rötlichkeit. Weites Grün gab es nur hin und wieder mal, wenn das Meer diese Farbe angenommen hatte, aber es war ein anderes Grün als das der Felder, nahm sie an. Felder und Wälder, so weit das Auge reichte. Unvorstellbar.
Sie blickte noch einmal gen Norden, dann machte sie sich an den Abstieg. Sie war eine Kriegerin,