DIE REICHE VON ITHOR. Martin Cordemann
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Ron musste lächeln. Mit einemmal ergab alles einen Sinn! Draaken konnten Feuer speien und damit Stein zerfließen lassen. Draaken konnten fliegen, also würden sie keine Spuren auf dem Boden hinterlassen. Und Draaken hassten die Menschen, also würden sie nicht zögern, sie zu vernichten, wenn sich ihnen die Gelegenheit bot.
Schwert seufzte. Das war eine soviel bessere Erklärung als die, dass die Götter zurückgekehrt waren. Sicher, er war sich bewusst, dass er nur eine Legende gegen eine andere ausgetauscht hatte, aber die mit den Draaken erschien ihm soviel glaubwürdiger. Sie würden eine Armee aufstellen, um den Draaken zu töten, ja, das war etwas, mit dem man im Volk den Mut zum Kampf schüren konnte – und nicht die Angst vor irgendwelchen Göttern, die zurückgekehrt waren. Aber bevor sie sich für den Kampf gegen die Feuer speienden Monster rüsteten, musste er erst einmal herausfinden, wo diese zu finden waren. Doch das würde wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Ron seufzte ausgiebig, warf noch einen letzten Blick auf die versperrte Schlucht, dann ritt er langsam zurück zum Kelldorianischen Stützpunkt.
Zu ihrer Linken konnten sie das Kap des Verderbens sehen, die südlichste Spitze von Vant. Auch wenn es ein sonniger Tag war und die See sich von ihrer besten Seite zeigte, so wusste Stan Kapitän aus Erfahrung, dass die Reise ums Kap nicht so leicht war, wie es das Meer einen an Tagen wie diesem glauben machen wollte. Viele Schiffe waren dort zerschellt, die Felsklippen voll von morschem Holz verfaulender Schiffskadaver, die hier ihr Ende gefunden und dem Kap seinen Namen gegeben hatten. Die Reise nach Kapstadt, für die man das Kap erst besiegen musste, stand heute nicht auf ihrer Tagesordnung, auch, wenn er sie schon mehrmals unternommen hatte.
Er hatte viele Meere bereist und war ein erfahrener Seemann. Er kannte sich gut aus. Gerade hatten sie das Flackernde Leuchtfeuer passiert, das auf der Westseite der Südspitze Vants auf das Kap hinwies. Auf der Ostseite gab es das Stetige Leuchtfeuer, und zwischen ihnen Kapstadt. Es waren Zeichen, an denen man sich als Seemann orientieren konnte.
Sie ließen die Westküste von Kelldor hinter sich und schipperten geradewegs nach Süden. Wären sie, wie er es schon oft getan hatte, der Küste gefolgt und hätten in Richtung Osten das Kap umrundet, würden sie schon bald die Türme von Kapstadt erspähen und den fauligen Geruch der Metropole riechen, der weit über das Meer trieb und bei Nebel ein besseres Orientierungsmittel war als die beiden Leuchttürme. Und wenig später hätten sie auf diesem Kurs die Insel des Spuckenden Feuers rechts vor sich…
Der Kapitän sah Richtung Osten. Der Himmel war klar und blau, aber irgendwo direkt hinter dem Horizont hing eine kleine dunkle Wolke in der Luft. Dort befand sich die Vulkaninsel. Bei Tag war es eine gute Navigationshilfe, bei Nacht, wenn man von Süden kam und man vor sich das Flackernde Leuchtfeuer und rechts von sich den dünnen Feuerschein sah, dann wusste man, dass man zu Hause war, in Kelldor.
…und wenn sie sie mit ihren Feuerspeienden Bergen zu ihrer Rechten hatten, konnten sie die Südspitze Vants umrunden und an der Ostküste entlang weitersegeln nach Norden, bis man zur Pyramidenstadt mit ihren acht Pyramiden kam, deren Funktion noch niemand entschlüsselt zu haben schien. Von dort war er schon mehrfach mit dem Lord Botschafter und seiner Dame des Schwertes nach Savaan im Osten gereist, wo sie mehrfach die Glocke der Trunkenheit geläutet hatten, ebenso wie die Glocke des Katers und die Glocke der Morgendlichen Übelkeit.
Aber auch auf der anderen Seite des Kontinents kannte er sich aus. Er hatte so manche Insel des Inselreichs bereist, das westlich vom Kontinent lag. Nur in den Süden war er bislang kaum vorgestoßen, aber das war niemand aus Kelldor, zumindest nicht in den letzten Jahren. Es war weitestgehend unbekanntes Gebiet für sie.
Vor ihrer Abreise hatte er sich mit den Botschaften, die sie von den Spionen über das Seevolk erhalten hatten, auseinandergesetzt und er hatte eine überraschende, ja erschreckende Entdeckung gemacht. Wenn man die Nachrichten so las, wirkte es fast so, als hätte man über die Jahre immer wieder Berichte von den Spionen erhalten, doch bei näherer Betrachtung stellte sich das als falsch heraus. Denn zwar waren in den letzten Jahren immer mal wieder Schriftrollen aufgetaucht, was den Anschein eines stetigen Flusses an Informationen vortäuschte, aber tatsächlich datierte die letzte „aktuelle“ Meldung etwa 50 Jahre zurück. Seit 50 Jahren waren keine neuen Informationen mehr nach Kelldor gelangt.
Man hatte viele der Berichte mit Nachrichtenmöwen geschickt. Darin wurde berichtet von dem, was sich beim Seevolk so tat. Ein Bericht hatte den Kapitän ein wenig amüsiert. Er sprach davon, dass man die Insel, auf der man lebte, zu einem riesigen Schiff umbauen wolle. Das klang selbst für einen gelangweilten Spion ein wenig weit hergeholt. Andere Schriftstücke sprachen von ausuferndem Abholzen der Wälder, um ein riesiges Schiff oder eine riesige Flotte Schiffe zu bauen, da schien man sich nicht ganz einig. Vom Verlassen der Insel war mehrfach die Rede. Aber wovon würde das Seevolk leben, wenn es die Insel verließ? Von Fischen vielleicht. Aber wenn sie nur noch auf ihren Schiffen leben wollten, gab es keine Felder – und vor allem kein Trinkwasser. Dafür hätten sie sich die riesigen Meeressäuger Untertan gemacht, hieß es. Damit beherrschten sie riesige Tiere, die im Meer lebten. Ein faszinierender Gedanke. Der Kapitän würde all das nur zu gerne sehen – wenn es denn existieren würde. Was er bezweifelte. Diese Spione hätten Abenteuererzählungen verfassen sollen, so viel Phantasie steckten sie in ihre Arbeit.
Einer der letzten Berichte, der eingetroffen war, sagte noch einmal, dass das Seevolk eine neue Flotte bauen würde. Das war eine beunruhigende Nachricht, oder wäre eine gewesen, wenn sie aktuell gewesen wäre. Doch sie war nur als letzte eingetroffen, datierte aber auch auf eine Zeit vor vielen Jahrzehnten zurück.
Stan fand eine Erklärung dafür. Viele dieser Nachrichten waren vor vielen Jahren abgeschickt worden. Man hatte sie in einem wasserfesten Futteral an einer Nachrichtenmöwe befestigt und abgeschickt. Doch viele dieser Möwen hatten ihr Ziel nicht erreicht, oder erst auf Umwegen. Manche schienen einen anderen Kurs gewählt zu haben, hatten Zwischenstopps auf der Insel des Spuckenden Feuers gemacht, waren im Inselreich gelandet oder in Savaan und waren erst viele Jahre später zu ihrem Ausgangspunkt in Kelldor zurückgekehrt, noch immer die unversehrte Nachricht mit sich tragend. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Datum näher zu begutachten, man nahm es als neue Information hin und vermerkte nur das Ankunftsdatum, nicht aber das des Verfassens.
Andere Möwen hatten weniger Glück. Sie wurden gefangen oder von Fischen gefressen. Die Fische wurden von anderen Fischen gefressen oder von Fischern gefangen und als man sie zubereitete, fiel den jeweiligen Fischhändlern oder Köchen die Botschaft in die Hände, die an der Möwe befestigt war. Die brachte man dann umgehend dem Bürgermeister, der sie an die zuständige Stelle im Reich weiterleitete. So kam es, dass es niemandem aufgefallen war, dass die Spione sich seit 50 Jahren nicht mehr gemeldet hatten.
Was mochte aus ihnen geworden sein? fragte sich Stan Kapitän. Hatte man sie entdeckt? Hatte man sie hinrichten lassen? Oder waren sie mit auf die große Flotte aus Holz gezogen, in der es keine Nachrichtenmöwen mehr gab, mit denen sie ihre Berichte aussenden konnten? Es war ein Geheimnis, eins von vielen. Der Kapitän läutete die Glocke des Fehlers und berichtete Sigrid Bürgermeisterin, der Bürgermeisterin von Residenzstadt unterhalb der Sommerresidenz, von seiner Entdeckung und sie erklärte aufgeregt, sie würde sofort eine Depesche an den König entsenden. Nur wenig später stach der Kapitän in See.