Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich
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Wer erinnert sich noch, was beispielsweise die deutsche Filmregisseurin Doris Dörries anläßlich „eines Aufstandes der anständigen Kulturpromis“ nach den mörderischen Übergriffen in Rostock im Thalia Theater in Hamburg als etwas Programmatisches unterbreitet hatte? Sie hatte damals gemeint, daß das „Wegschauen“ nichts mit dem „Anstand“, sondern mit der Angst zu tun hat. Angst gegenüber Rowdies. Deshalb sollte jeder, so Doris Dörries im Thalia Theater in Hamburg, jeder sollte ein für alle sichtbares Zeichen in der Öffentlichkeit tragen (an dem Tag trugen viele ein lila Band) , damit wir an allen Orten wissen, daß wir gegen Rowdies nicht allein sind. So hatte Doris Dörries damals gemeint. Liveübertragung im öffentlich–rechtlichen Fernsehen. Riesenbeifall. Wie gesagt: nach „Rostock“. Wissen wir noch, wann „Rostock“ war? Vergessen wir nicht immer mehr. Immer schneller. Wieso wird unser Gedächtnis immer kürzer?
Dann im Jahre 2000 wird von „Promis“ mit „Body–guards“ vorgeschlagen, „Gesicht“ zu zeigen. Zehn Jahre nach „Rostock“. Wie sollen wir angesichts dieser Verhältnisse noch fragen können, was vor „Rostock“ war? Vor den „Türkenwitzen“? Vor den „Gastarbeitern“? Vor der „Reichskristallnacht“? Vor der Machtübernahme Hitlers? Vor „Mein Kampf“? Vor dem Ersten Weltkrieg? Vor dem Kolonialismus? Vor dem Zeitalter der „Aufklärung“? Fragen ohne Ende. Und natürlich ohne Antworten, weil wir ja solche Fragen eigentlich nicht stellen, nicht stellen sollen.
Aber wir haben uns an diese Spielregel nicht gehalten. Wir üben, Fragen zu stellen. Beispielsweise: Ist die Alltagsgewalt von heute tatsächlich neu? Die tägliche Jagd auf Fremde, auch gegen die sozial Schwachen wie Kinder, Frauen, Arme. Was sind die Grundpfeiler dieser Kultur, für die findige Köpfe – gut dotiert – sich immer neue Namen einfallen lassen und uns diese durch die vielfältige Mediengewalt täglich einhämmern? Zwingt nicht das Tempo der fortschreitenden Entwicklung die „Wissenschaftler“ den jeweiligen Stand dieser Kultur mit einem entsprechenden Namen zu charakterisieren? Bekommen wir nicht alle Jahre wieder einen neuen Namen für die gerade gegenwärtige Kultur bzw. Gesellschaft verpaßt? Hält die Namengebung noch Schritt mit dem „Fortschritt“? Können wir uns an all die Namen erinnern?
An einige Namen erinnern wir uns schon, die der Kultur oder der Gesellschaft vorangestellt wurden: Christliche, abendländische, europäische, industrielle, westliche, Nachkriegs–, demokratische, moderne, humanistische, post–industrielle, formierte, solidarische, Freizeit–, Informations–, Risiko–, Medien–, offene, globale, Internet–, interaktive, Spaß–, Fernseh–, usw., usw. Ist dieses Ritual der Namengebung, all die diversen Bezeichnungen für ein und dieselbe Gesellschaft, eher ein Ausdruck besonderer Phantasie, besonderer Genauigkeit? Oder ein Ausdruck der Verlegenheit? Eine Suche nach Identität? Oder der verzweifelte Versuch, wesentliche Charakteristiken dieser Kultur zu verschleiern, die Aufmerksamkeit ständig auf den oberflächlichen Wandel und auf die technologische Entwicklung zu lenken? Wer hat Angst davor, daß wir die Grundpfeiler unserer Kultur selbst entdecken und sie benennen? Sind wir dazu nicht in der Lage? Sind wir zu dumm? Wenn es so wäre, warum das unaufhörliche Einhämmern, warum so viel Aufwand um die sogenannte politische Bildung? Oder sind wir doch nicht dumm? Und deshalb das Einhämmern? Pausenlos. Wir lassen die Fragen als Merkposten stehen.
Wir haben uns auf die Suche gemacht. Unsere Mittel sind bescheiden. So haben wir mit schlichten Fragen begonnen. Wer erzählt uns was? Und woher weiß der betreffende Erzähler das, was er uns erzählt? Unsere Fragen sind zwar einfach, aber sie haben wie Dynamit gewirkt. Auch deshalb, weil wir beharrlich sind und uns nicht mit geläufigen Scheinantworten abspeisen lassen. Wir dokumentieren diese unsere Suche und die Fundstücke. Wir stellen sie zur Diskussion. Damit wir alle immer besser Fragen stellen lernen. Damit wir im täglichen Leben nicht unter die Räder kommen.
*****
Das tägliche Leben wird heute durch „Informationen“ geordnet. Weltweit. Immer mehr Informationen und eine immer mehr gefestigte Ordnung. Nicht nur durch die gedruckten und elektronischen „Medien“. Informationen werden auch vermittelt durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, und das nicht zu knapp. Wo kommen die Informationen her, wo werden sie erzeugt, wer bringt sie in Umlauf, welche Wege nehmen sie, wie lange dauert es, bis eine Information vom Produktionsort das Elternhaus erreicht? Wir wissen es nicht. Ist es wichtig, das zu wissen?
Der Konsum von Informationen bereitet uns anscheinend viel Spaß und vermittelt uns viel Wissen. Wissen? Der 24-Stunden-Tag reicht kaum noch aus. Wann soll überhaupt noch nachgedacht und nachgefragt werden? Nachgedacht und nachgefragt? Ist es notwendig? Da helfen uns die Mahnungen einiger weniger Rufer wie des Medienkritikers Neil Postman wenig, daß wir uns möglicherweise zu „Tode unterhalten“ oder zu „Tode informieren“ lassen könnten. Wenn es so wäre, wäre das nicht ein sorgenfreier, ein unterhaltsamer, ein fröhlicher, ein schöner Tod? Was ist dagegen einzuwenden? Aber wir leben noch. Wir leben heute. Und wir können nicht aussteigen, selbst wenn wir wollten. Von wo und wohin? In unserer Zeit haben Robinsons keinen Platz auf diesem Planeten. Aber müssen wir aussteigen, müssen wir alles hinnehmen, was uns so gebracht wird?
Das Netzwerk des Transports von „Informationen“ wird immer dichter. Die Übertragungen sind flächendeckend. Die Menge der Informationen steigt und alles wird immer unüberschaubarer. Unüberschaubar ist auch die rasende Entwicklung der Technologien der Vermittlung. Informationen werden immer schneller zum Zielort gebracht. Rund um die Uhr. Rund um die Welt. Allein die Beherrschung der sich schnell überholenden technischen Ausrüstungen verbraucht mehr Zeit als wir eigentlich zur Verfügung haben. Geraten wir so nicht in die Informationsfalle? Sind wir uns dessen bewußt? Wollen wir uns aus dieser Falle befreien? Können wir uns befreien? Wie?
Wir haben kein Rezept gefunden. Selbst wenn wir welche gefunden hätten, würden wir sie hier nicht zum Besten geben. Dies wäre, meinen wir, unverantwortlich. Aber wir bemühen uns unaufhaltsam, uns aus dieser Falle zu retten. Wir vertrauen darauf, daß unser unaufhaltsames gemeinsames Bemühen und der ständige Austausch unserer Erfahrungen uns aus der Informationsfalle führen werden. Wir bauen darauf. Deshalb berichten wir über unsere Bemühungen.
Wir wissen wenig darüber, wo jene Informationen, die uns von unterschiedlichen Instanzen wie Familie, Schule usw. vermittelt werden, ursprünglich erzeugt werden, wer sie erzeugt und warum sie immer mehr Menschen verfügbar gemacht werden. Wir wissen auch wenig über die Gesamtmenge der verfügbaren Information und welcher Teil uns davon verfügbar gemacht wird. Und wir haben wenig Mittel, die Qualität dieser Informationen zu überprüfen. Doch wird unser tägliches Leben von Informationen überflutet. Und wie es bei einer Flut so ist, wir sehen die Flut kommen, wir sehen die Wucht der Flut und doch können wir nicht wirklich fliehen. Selbst wenn uns die Flucht gelingt, wundern wir uns, wie die Flut uns doch noch mittelbar einholt. Wir kaufen sie täglich. Aber warum kaufen wir diese Flut von Informationen und verbrauchen unsere Lebenszeit?
Und was ist Information? Alles was uns über die „Medien“ geliefert wird? Gibt es Unterschiede? In der Qualität? Welche? Wo und wie lernen wir, Informationen zu unterscheiden, zu bewerten? Ist Information bloß eine Nachricht, eine Auskunft, eine Belehrung, oder etwa auch ein Baustein für Wissen oder alles zusammen? Wer gibt uns Antworten auf unsere Fragen? Die Verkäufer dieser Informationsmaschinerie tun dies nicht. Natürlich können wir zu Nachschlagewerken greifen. Helfen sie uns weiter? Was sind Nachschlagewerke? Gibt es Unterschiede zwischen ihnen? Seit wann gibt es Nachschlagewerke? Wer sind ihre Verleger? Wer trägt die Schlagworte zusammen? Werden alle möglichen Schlagwörter erfaßt? Gibt es Auslassungen? Welche? Und woher wissen die Verfasser der Nachschlagewerke, wenn sie selbst glauben, etwas zu wissen, daß ihr Wissen auch Wissen ist? Welche sind die