Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich
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Bekanntlich hat jede Lichtseite auch eine Schattenseite. Seit es die Schrift gibt, scheint der Umfang des unmittelbaren Austausches aus welchen Gründen auch immer tendenziell abzunehmen. So verflüchtigt sich auch nach und nach die Möglichkeit der unmittelbaren Überprüfung, der sofortigen Korrektur des fehlerhaft Wahrgenommenen. Wie oft erfahren wir im Alltag die Schwierigkeit, das, was uns im Kopf klar ist, so in Worte und in Sätze zu fassen, daß es von unserem Gegenüber auch so verstanden wird, wie wir es gemeint haben. Allein vom Ausdruck des Gesichts unseres Gegenübers entziffern wir, ob der gesendete Inhalt ohne Verzerrung und Entstellung ankommt. Im Zweifel wählen wir andere Worte, andere Sätze und wiederholen wir die Sendung. Bei Unverständnis oder Widerspruch geben wir zusätzliche Erläuterungen. Den Austauschvorgang beenden wir im gegenseitigen Einvernehmen. Tendenziell findet also der Austausch von Angesicht zu Angesicht ohne Mißverständnis statt.
Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, eine Lügengeschichte glaubhaft abzusetzen, äußerst eingeschränkt. Wie heißt es so schön etwas übertreibend? Beim Lügen wackelt unsere Nase. Beim Lesen sind wir auf unser Entzifferungsvermögen und unsere Auffassungsfähigkeit angewiesen, vorausgesetzt, daß die schriftliche Übermittlung einfach und allseitig verständlich abgefaßt ist. Aber was ist, wenn bewußt etwas Falsches übermittelt wird? Beim Lesen sehen wir keine „Nase“! Und unser Eindruck ist, daß wir immer weniger „die Nase“ vermissen, immer bequemer werden und uns mit mittelbarer Unterhaltung begnügen, uns immer williger mittelbar unterhalten lassen, geneigter sind alles zu glauben, was an uns mittelbar herangetragen wird. Bald wird uns die Scheinwelt, die virtuelle Welt heimisch und die wirkliche Welt fremd.
Es ist nicht unsere Absicht, hier nachzeichnen zu wollen, wie die Dominanz des Außenspeichers und die Verkümmerung des Kopfspeichers im einzelnen verlaufen ist und immer noch verläuft. Wir erinnern uns lediglich an die bereits erwähnten Quantensprünge dieser Entwicklung: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Und wir erinnern uns auch an die Kehrseite dieser Quantensprünge. Sie, die Kehrseite, macht uns darauf aufmerksam, daß der Außenspeicher nie eine Kopie, sondern eine Übersetzung des Originals ist. Und die Konturen von Übersetzungen stets unschärfer als Kopien und die Konturen von Kopien unschärfer als das Original sind (digitale Kopien ausgenommen). Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß die Übersetzungen von Kopien und die Übersetzungen von Übersetzungen eben falscher sind, auch ohne bewußte Fälschung. Aus der Natur der Sache heraus.
Wir haben wiederholt den Ausdruck „Quantensprung“ verwendet. Wir nehmen diesen Ausdruck, der aus der Atomphysik stammt, mit einer dicken Entschuldigung zurück. Gemeint haben wir mit diesem Ausdruck einen unerwartet großen Sprung auf der Entwicklungsschiene, und nicht das Verhalten von Quanten bei der Atomspaltung, das wir aus eigener Anschauung nicht nur nicht kennen, sondern vom dem wir auch keine Ahnung haben. Aber ist der Gebrauch von solchen Begriffen nicht hübsch, beeindruckend, Eindruck schindend, bluffend und fälschend?
Aber richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die unerwartet großen Sprünge und lassen uns nicht durch „Guinness–Fragen“ ablenken, wie groß eigentlich groß ist. Diese von uns erwähnten Sprünge beziehen sich auf die Eigenschaften von Speichern und Trägern des Wissens und nicht auf die Sprünge des Wissens, bzw. der Erkenntnis. Und wir müssen uns eingestehen, daß wir über die Sprünge des Wissens wenig wissen. Wieso? Wer will es wissen? Für die „moderne Wissenschaft“ ist dies eine Nichtfrage. Und Themen, mit denen sie sich nicht befaßt, sind über kurz oder lang verschüttet.
An dieser Stelle müssen wir uns auch entschuldigen dafür, daß wir zu Beginn eine Nachrichtenagentur namens Terra genannt haben, die es gar nicht gibt. Dies sollte nur ein Beispiel dafür sein, wie leicht etwas nicht Existierendes in Umlauf gebracht werden kann. Haben wir noch Zeit, Lügen und Fälschungen aufzudecken? Oder noch das Bewußtsein, daß ein Berg eine Fügung von unterschiedlich großen Steinen ist? Wir nehmen an dieser Stelle auch einen unbeabsichtigten Bluff zurück, nämlich: Es ist nicht unsere Absicht, hier nachzeichnen zu wollen, wie die Dominanz des Außenspeichers und die Verkümmerung des Kopfspeichers im Einzelnen verlaufen ist und immer noch verläuft. Auch darüber wissen wir nichts. Es gibt keine Forschung über die Verkümmerung des Kopfspeichers. Aber doch über die Entlastung des Kopfes durch technische Hilfsmittel. Diese Entlastung ist uns als die Humanisierung der Arbeitswelt schmackhaft gemacht worden. Die Hilfsmittel lassen sich ja auch leichter vermarkten als etwaige Übungsprogramme für die Steigerung der Effizienz des Kopfspeichers. Was wissen wir über die Beschaffenheit des Kopfspeichers? Wie weit ist die Entdeckung in diesem Bereich fortgeschritten? Was wissen die Gehirnforscher über die Gehirnmasse? Gehirnmasse? Kann die Zusammensetzung der Gehirnmasse beschrieben werden? Ihre Funktionsweise? Ihre Kapazität?
Wir können nicht übersehen, daß das Wissen unmittelbar mit der Wahrnehmung, mit der Entdeckung zunächst im Umfeld, und deren Verarbeitung zu tun hat. Erst das Wissen macht den Speicher erforderlich. Der Kopf als Speicher war schon immer da, auch ohne die Entdeckung seiner Beschaffenheit. Das Arbeiten mit dem Kopfspeicher setzt keine neuen Entdeckungen voraus, sondern die Erfindung von Techniken. Die Sprache ist keine Entdeckung, sondern eine Technik. Die Schrift ist ebenfalls eine Technik. Der Außenspeicher ist keine Entdeckung. Er ist ein technologisches Hilfsmittel, ein Werkzeug. Ausgetüftelte Technologien könnten bequemer zu Entdeckungen, zu Wissen, zur Wissenschaft führen, aber die Erfindung von Technologien ist keine wissenschaftliche Tätigkeit, vielmehr setzt diese Tätigkeit Wissenschaften voraus. Für die Beurteilung und Bewertung unserer Tage halten wir ein klares Auseinanderhalten von Wissenschaft und Technologie für unerläßlich. Denn nur dieses Auseinanderhalten ermöglicht uns Einblicke in das Verhältnis von Wissenschaft und Technologie. Wichtig scheint uns die Erkenntnis, daß Sprache, Schrift, Buchdruck, bis hin zum Internet, Erfindungen sind, die das angesammelte Wissen, die Wissenschaft tragen, bzw. transportieren können. Sie werden bedeutungslos, wenn die Wissenschaft verkümmert. Wem nützt es, wenn nur Bedeutungsloses hin und her transportiert wird? Auf „Moorhühner“ schießen wäre dann unterhaltsamer.
Wichtig scheint uns auch die Erkenntnis, daß der mittelbare Austausch von Wissen den unmittelbaren Austausch von Wissen nicht ersetzen kann. Aber die ständig zunehmenden Einrichtungen und die Geschwindigkeit der Übermittlung – wir haben bereits dies als unkontrollierbare Flut charakterisiert –, macht es uns schwer, den transportierten Inhalt zu fassen, zu bewerten, zu überprüfen. Immer mehr fehlen uns nicht nur die Zeit und Gelegenheit dafür. Uns fehlen auch die Menschen für einen unmittelbaren Austausch über die mittelbaren Anlieferungen. Wir werden auch den Eindruck nicht los, daß uns fortwährend eingehämmert wird, daß die Träger (Medien) die eigentliche Botschaft sind, und nicht, daß sie Botschaften tragen sollen. Der Buchdruck, das Transistorradio, das Fernsehen, das Internet sind die Botschaft, nicht die „Demokratisierung“ und nicht die Herstellung „demokratischer“ Verhältnisse. Wir alle wissen, daß diese Entwicklung nicht vom Himmel gefallen ist. Wir alle wissen auch, daß an dieser Entwicklung viele viel Geld verdienen und Macht ansammeln. Wie? Meist unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Besitzverhältnisse werden verdeckt. Die Gewinne werden verschleiert. Kann das gut sein?
Es scheint so richtig zu sein. Warum soll denn in einer Demokratie (Herrschaft des Volkes) einer aus dem Volk genau wissen wollen, wie ein Reicher zu seinem Reichtum gekommen ist? Schließlich ist das Steuergeheimnis eines der höchsten Güter, das in der Demokratie geschützt bleiben muß. Wird dadurch nicht verhindert, daß wir zu einem Volk von