Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich

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Lügen mit langen Beinen - Prodosh Aich

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wir keine Antworten auf unsere Fragen aus dem eigenen Fundus hatten. Irgendwann haben wir uns aber gefragt, wie wohl Nachschlagewerke zustande kommen? Wer legt die behandelten Schlagwörter fest? Fallen welche heraus? Warum? Nach welchen Gesichtspunkten? Will der Verlag nur Geld damit verdienen? Hat der Verleger auch eigene Vorstellungen über Moral und Werte? Verbindet er diese mit dem Geld verdienen? Wie weiß der Verleger, daß er in seinem Nachschlagewerk alles wichtige erfaßt hat? Wie vergewissert er sich? Wen zieht er zur Beratung hinzu? Forscher? Wissenschaftler? Haben die auch Moralvorstellungen? Gäbe es Nachschlagewerke ohne Wissenschaftler, ohne Gelehrte? Sind wir nicht wieder bei den Eliten?

      Aus zwei Gründen haben wir bei den Nachschlagewerken verweilen müssen. Immer wenn wir etwas nicht wissen, greifen wir zu Nachschlagewerken und informieren uns. Wir lassen uns erzählen und wir nehmen das Erzählte willig als richtig hin. Wir lassen uns überzeugen. Wir haben keine Alternative. Äußerst selten fragen wir: wer hat all das zusammengeschrieben? Woher und wie haben die Autoren der Texte all das zu den Stichworten gewußt? Wurde ihr Beitrag redigiert, korrigiert, gekürzt? Warum gibt es mehr als ein Nachschlagewerk?

      Der zweite Grund ist noch folgenträchtiger. Wann und wie wurde die Nachfrage nach einem Nachschlagewerk erzeugt? Nachschlagewerke grenzen auch Stichworte aus. Sie müssen es. Jeder weiß, daß alle Medien unter chronischen Platzmangel leiden. Alle Medien müssen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen. Aber nach welchen Gesichtspunkten grenzen sie Stichworte, Themenbereiche aus? War dem ersten Verleger bewußt, daß er mit dem Verlegen eine Standardisierung der Antworten auf Erkenntnisfragen verursachte? Und mittelfristig auch der Erkenntnisfragen? Der beispielhafte Krieg gegen die Nachschlagewerke im Internet wird mit harten Bandagen geführt. Die Verleger gedruckter Nachschlagewerke werfen den Verlegern im Internet vor, ob des Wettbewerbs alles zu verkürzen und wollen uns vergessen machen, daß sie während der Zeit ihrer Marktbeherrschung genau das Gleiche gemacht haben. Wir sollen glauben, diesen Verlegern ginge es um die Qualität, um die Vermittlung von Wissen und nicht um das Geld. Die Kriegsberichterstattung soll uns nicht davon abhalten darüber nachzudenken, was es wirklich bedeutet, über Nachschlagewerke alles mögliche zu „standardisieren“? Standardisieren? Standardisieren oder begrenzen?

      Wer alles liefert den Verlegern den verkäuflichen Text, und woher haben sie das Wissen? Wissen? Sind wir nicht wieder bei den Eliten? Was ist, wenn sie sich irren? Was ist, wenn ihre Quellen unzureichend gewesen sind? Was ist, wenn sie uns wider besseres Wissen etwas vortäuschen wollen? Und was ist mit jenem Teil, der bei der Begrenzung (Standardisierung) ausgegrenzt wird? Ist unser Alltag nicht angefüllt von der Erfahrung, daß uns viele Geschichten aufgetischt werden, die nur kurzen Bestand haben? Von Kanther, Koch und Kohl oder Vietnam, Irak, Somalia, und Kosovo ganz zu schweigen. Redet die politische Elite nicht andauernd von Themen „besetzen“ und Ideen „verkaufen“? Schämt sie sich dabei? Haben wir auch nur leichte Hinweise – den vielen „Talkshows“ zum Trotz –, daß die Eliten anderer gesellschaftlichen Bereiche beim „Verkauf“ ihrer verkäuflichen Werte verschämter sind? Gibt es heute etwas, was nicht käuflich ist? Was?

      Es ist allseitig unbestritten, daß nach dem ersten großen Sprung im Bereich des geistigen Austausches durch die Entwicklung der Schrift in diesem Bereich eine ganze Menge geschehen ist. Vielfalt und Vervielfältigung der Medien auf hohem technologischen Niveau. Aber haben wir auch Meßlatten und Prüfgeräte um zu beurteilen, ob möglicherweise die angebliche Vielfalt von Medien und Information, doch nur eine vielfältige Wiederholung der gleichen Desinformation ist? Uns allen würden viele Beispiele der massiven Desinformation durch alle Medien einfallen, wenn unser Erinnerungsvermögen in der „Informations– und Mediengesellschaft“ nicht schon fast verloren gegangen wäre. Wir wollen an dieser Stelle nicht unbedingt fragen, wie oft das Bundesverfassungsgericht in Deutschland jene nie vom Volk unmittelbar gebilligte Finanzierung der politischen Parteien als verfassungswidrig beurteilt hat. Auch nicht wer und wie von den oberen Hundert schon Erinnerungslücken (black-outs) für sich in Anspruch genommen hat, wenn sie glaubten, bei ihren Untaten erwischt worden zu sein.

      Wir fragen beispielsweise auch nicht nach der im Fernsehen übertragener Reaktion von Roman Herzog als Präsident des Bundesverfassungsgerichts, als bekannt wurde, daß der gerade verstorbene herausragende Verfassungsrechtler dieser deutschen Republik, Theodor Maunz, jahrelang wöchentlich den Vorsitzenden der rechtsextremen Deutschen Volksunion (DVU) und Verleger Dr. Gerhard Frey traf und ihn in seinen diversen Verwaltungsgerichtsverfahren außerordentlich effizient beriet. Roman Herzog reagierte, äußerte für den Reporter anscheinend überzeugend, daß er den Bauch voll Wut hatte als er dies erfuhr. Der Reporter fragte in dem gesendeten Fernsehbericht nichts nach. Hatte der Reporter nicht gewußt, daß Roman Herzog als junger Rechtswissenschaftler viele Jahre Vertrauter und enger Mitarbeiter eben jenes Theodor Maunz war? Daß der gebräuchlichste Grundgesetzkommentar den Namen Maunz–Herzog trägt? Daß es in dieser Republik keinen Verfassungsrechtler gibt, der nicht Theodor Maunz immer noch hoch in Ehren hält? Wie viele Medienmacher haben uns informiert, daß Theodor Maunz auch im Dritten Reich ein ebenso herausragender Verfassungsrechtler gewesen ist? Wie hielt es Theodor Maunz mit dem „Führerprinzip“? Ein Bauch voller Wut mag noch akzeptiert werden. Aber ist die Frage nicht unmittelbar fällig, wenn er, Roman Herzog, trotz jahrelanger engster Zusammenarbeit nicht gemerkt hatte, aus welchem Holz Theodor Maunz geschnitzt war, war er dann selbst geeignet als oberster Verfassungshüter der neuen Deutschen Republik? Nein, alle diese Fragen stellen wir nicht. Es ist ja alles schon so lange her.

      Nur, wir kommen nicht umhin, die Frage nach den Zusammenhängen in den Raum zu stellen. Gibt es Zusammenhänge zwischen der Medienvielfalt und dem Verlust von Gedächtnis? Können wir übersehen, daß trotz Medienvielfalt alle Medien dieselben Schlagzeilen unter gleichen Gewändern transportieren, und daß Medienvielfalt keineswegs zur Informationsvielfalt, nicht zu facettenreicheren Einblicken in die Ereignisse geführt hat? Können wir wirklich übersehen, daß die Vielzahl der Zeitungen, Magazine, Rundfunk– und Fernsehsender nur täuschend sein kann, wenn ihre Quellen, die Agenturen, die gleichen sind? Und konkurrieren sie nicht bedingungslos um den Kuchen der Werbebudgets der Waren verkaufenden Unternehmen? Auch die öffentlich–rechtlichen Rundfunk– und Fernsehanstalten? Welche von ihnen könnte den riskanten Versuch unternehmen, mit alternativer Programmpolitik ein größeres Stück vom Werbekuchen zu ergattern? Was ist, wenn es schief geht? Sie konkurrieren also folgerichtig nach dem „Guinness–Prinzip“: schneller, reißerischer, unterhaltsamer und besser nur in technischer Qualität. Auflagenhöhen und Quoten sind Trumpf. Zusammenhänge und Hintergründe sind kopflastig, sind weniger unterhaltsam. Und wir lassen uns gern unterhalten. Unterhaltung braucht kein Gedächtnis. Gedächtnis belastet nur. Haben wir nicht genug Krampf und Kampf um den Alltag zu bewältigen?

      Wir haben sicherlich noch nicht ganz vergessen, mit welcher Gewalt die täglichen Pressekonferenzen aus dem Weißen Haus bei der Terroristenbekämpfung in Afghanistan, aus dem NATO–Hauptquartier während des „unvermeidbaren“, „gerechten“ Kosovo Krieges uns welche unglaublichen Geschichten „glauben machen“ wollten. Hatten nicht die US–Bomber und NATO–Bomber nur intelligente Bomben abgeworfen, die stets zwischen „bin Ladens“ und „Milosevics“ einerseits und afghanischen und jugoslawischen Kindern und Frauen anderseits unterscheiden konnten? Abgesehen von den wenigen „Kollateralschäden“! Kollateralschäden? Hatte nicht die zivilisierte „Staatengemeinschaft“ in diesen Kriegen aus der Luft, nein, in diesen „Luftschlägen“, die einzige Möglichkeit gesehen, in Afghanistan das gegenseitige Abschlachten der afghanischen Stammeskrieger, in Kosovo eine „ethnische Säuberung“ zu verhindern? Was haben die „Luftschläge“ und die gewonnenen Kriege tatsächlich gebracht? In Afghanistan, in Kosovo, in Bosnien–Herzogovina, in Kroatien? Was sind Stammeskriege? Was ist ethnische Säuberung? Was war in Somalia? Und im Libanon?

      Und was war im „Golfkrieg“ los? Wann ist er zu Ende gegangen? Hat unser Kopfspeicher noch Platz für den „Golfkrieg“? Der „Golfkrieg“ ist offenbar gelöscht. Heute wissen wir im besten Fall noch, daß die nach 1990 geborenen irakischen Kinder eigentlich selbst daran schuld sein müßten, daß das Regime von Saddam Hussein immer noch im Irak herrscht. Dem „Golfkrieg“ zum Trotz. Wie sonst sind die fortwährenden

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