Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich
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Читать онлайн книгу Lügen mit langen Beinen - Prodosh Aich страница 10
Wir alle wissen, daß „Informationen“ nicht vom Himmel fallen. Sie werden produziert und dann zu uns getragen, damit wir sie auch verbrauchen. Die Bandbreite der Träger, gemeinhin „Medien“ genannt, ist weit. So scheint es. Wir haben behauptet – wahrscheinlich ohne auch nur einen dumpfen Widerspruch provoziert zu haben –, daß Informationen durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, durch gedruckte und durch elektronische „Medien“ an uns heran gebracht werden. Die Bandbreite der Medien wird immer dichter. Und diese Verdichtung soll Fortschritt bedeuten. Je dichter, um so „fortschrittlicher“. So wird es uns präsentiert und wir glauben auch daran. So sehr, daß wir uns im Alltag über diese Träger, über die Medien, wenig Gedanken machen. Wir stürzen uns auf den Inhalt der überbrachten Information, debattieren über ihn mit viel Akribie. Irgendwann ist die Luft raus. Selten haben wir die Kraft und die Ausdauer uns über den Träger, über den Weg, über den Erzeuger, über die Quelle Gedanken zu machen. Und was ist, wenn die Information einen erfundenen, einen nicht zutreffenden, einen falschen, einen gefälschten Inhalt hat? Ja, was ist, wenn es so wäre? Wären wir dann nicht etwas „glauben gemacht“ worden, was nicht ist? Und wenn es so wäre, wem nutzt das? Wem schadet das? Hat es etwas mit der Macht zu tun? Ausübung der Macht durch Manipulation? Wer übt die Macht über uns aus?
Der immer schneller werdende Alltag läßt uns keine Zeit mehr, zunächst nach der Quelle und nach der Qualität der Quellen zu fragen, bevor wir uns mit dem Inhalt einer „Information“ befassen. Ist dies nicht überall die Praxis geworden, in der Hochschule, in den Lektoraten der Verlage und in den Redaktionen der Medien? Schließlich besorgt sich jeder seriöse Mensch, jede Einrichtung, Information von seriösen Agenturen. Und wir alle sind doch seriöse Menschen! Oder? Dann erübrigt sich das Hinterfragen. Man kann schließlich nicht jedes und alles hinterfragen! Wo kämen wir dann auch hin? Nirgendwo. Wir kämen überhaupt nicht von der Stelle weg. Nicht wahr? Bewegung ist angesagt. Fortschritt! Wer rastet, der rostet. Und welcher „moderne“ Mensch will rosten?
Also lernen wir die fortschrittliche Wertigkeit zu verinnerlichen. Es gibt seriöse Agenturen und es gibt unseriöse Agenturen. Es gibt seriöse Quellen und es gibt unseriöse Quellen. Es gibt seriöse Nachschlagewerke und es gibt andere. Es gibt seriöse wissenschaftliche Werke und es gibt andere wissenschaftliche Werke. Nach welchen Kriterien so entschieden wird? Wer so entscheidet und wer die Entscheidung propagiert? Wie sollen wir das wissen? Haben wir überhaupt Zeit, solche überflüssigen, rudimentären Fragen zu stellen? Wissen wir denn nicht, daß beispielsweise die Deutsche Presseagentur im Vergleich zu anderen nicht–deutschen Agenturen verläßlicher ist? TASS, Tanjug, Terra und wie sie alle heißen mögen.
Es gibt natürlich einige etwa gleich gute Agenturen, wie Reuters, AP, AFP. Sie tauschen ihre Informationen auch untereinander aus. Ungeprüft, versteht sich. Der Rationalisierung wegen. Schließlich müssen die Agenturen wirtschaftlich organisiert sein, genug Geld verdienen, um sich gute Mitarbeiter leisten zu können. Kurz: alle Agenturen, die zu uns gehören, sind auch seriös und glaubwürdig. Wäre es nicht so, würden sie auch nicht zu uns gehören. Bekannte Nachschlagewerke sind eben seriöser, sonst wären sie ja auch nicht bekannt. Renommierte Verlage sind, na ja, wir wissen schon. Ein viel schreibender Wissenschaftler ist eben weiser. All dies hat man zu wissen. Sonst läuft man Gefahr, kurzatmig und unbeweglich zu werden. Zu rosten.
Wie schon erwähnt, werden wir nicht nur von einer unüberschaubaren Menge von „Informationen“ überschüttet, sondern auch die Geschwindigkeit des Überschüttetwerdens steigt ständig. Dabei haben wir, hat die Menschheit, etliche Quantensprünge beim Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen und Meinungen hinter sich: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Gibt es heute noch Möglichkeiten, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden? Machen wir uns Gedanken darüber? Haben wir Zeit dazu? Wird es nicht immer schwieriger, der Quelle einer „Information“ nachzuspüren, die Verläßlichkeit einer Quelle zu prüfen, „die Spreu vom Weizen“ zu trennen? Wie bewußt sind wir uns dieser mißlichen Lage? Fragen über Fragen. Wir haben Antworten gesucht und nicht gefunden. Nicht in den Nachschlagewerken, nicht in den sogenannten wissenschaftlichen Büchern. Weil wir auf der anderen Seite mit dem Ist–Zustand nicht klar kommen, beschreiten wir unübliche Wege, stellen unübliche Fragen. Wir wissen nicht, ob wir dadurch auch verläßliche Antworten auf unsere Fragen finden werden. Aber die Tatsache allein, daß wir begonnen haben, unübliche Fragen zu stellen, hilft uns, mit dem Ist–Zustand der Macht-Medien-Manipulation durch „Information“ immer besser klarzukommen. Wie war der Zustand der Macht-Medien-Manipulation früher?
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Wie verläßlich ist der Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der Kultur der schriftlosen Zeit gewesen? Zu dieser unserer zentralen Frage erzählen uns „Sprach– und Kommunikationswissenschaftler“ so gut wie nichts. Es ist schon so lange her. Außerdem ist es nicht eine wissenschaftliche Nicht–Frage? Haben wir nicht schon immer gelernt, daß wir heute im fortschrittlichsten Zeitalter mit der höchst entwickelten Kultur aller Zeiten leben? Die Gnade bzw. das Glück der Spätgeborenen?
Die fleißigen „Wissenschaftler“ von heute sagen uns aber nichts über die Verläßlichkeit, über die Genauigkeit der Wissensvermittlung in der schriftlosen Zeit im Vergleich zu der Zeit nach der Erfindung der Schrift, bis hin zum nächsten Quantensprung, der Erfindung des Buchdrucks mittels Bleilettern. Wir haben sie auch noch nicht so eindeutig gefragt. Angeblich soll es ja keine Antworten geben, wenn nicht ausdrücklich danach gefragt wird. Angeblich. Das Gesetz des Marktes soll es sein: Keine Nachfrage, kein Angebot. Wenn wir aber – dem Markt zum Trotz – häufig den Eindruck haben, daß uns mehr Antworten gegeben werden als gefragt, dann stimmt möglicherweise etwas mit unserem Apparat der Wahrnehmung nicht. Oder? Und wenn Antworten gegeben werden, bevor überhaupt gefragt worden ist? Was dann?
Auf unsere zentrale Frage über die Verläßlichkeit des Austausches von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der schriftlosen Zeit, sind wir auf unsere Vorstellungskraft angewiesen. Wir stellen uns vor, daß der ursprüngliche Austausch unserer Vorfahren über Laute und Gestik von Angesicht zu Angesicht stattgefunden haben muß. Überall. Ob neben dem Sehen und Hören auch andere Sinnesorgane für diesen Austausch herangezogen wurden, lassen wir an dieser Stelle außer Acht, weil wir uns dies nicht vorstellen können.
In unserem Zusammenhang scheint uns entscheidend zu sein, daß Laute und Gestik der Gattung Mensch schon immer nur eine endliche Bandbreite hatten und immer noch haben. Andere Gattungen haben andere Bandbreiten. Wenn sich Katzen aller Länder ohne wissenschaftlich akribische Stützen verständigen können, müßten das auch Menschen schon immer gekonnt haben und heute noch können. Auch ohne die Stütze durch Sprach– und verwandte „Wissenschaften“. Seit wann gibt es sie überhaupt, diese Wissenschaften?
Wir stellen uns vor, daß unsere Vorfahren ihr Umfeld immer genauer abgestuft wahrgenommen und für den Austausch von Wahrnehmungen und Erfahrungen die Bandbreite von Lauten zur Sprache und die Gestik zur darstellenden Kunst ausgeformt haben. Wir stellen uns ebenfalls vor, daß diese Systematisierung ein langandauernder, mühsamer Weg gewesen ist und ohne die Austauschform von Angesicht zu Angesicht nicht möglich gewesen wäre. Unterschiedliche Beobachtungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Meinungen wurden ausgetauscht, besprochen, angeglichen und vereinbart. Einvernehmlich. Fortwährend. Gespeichert wurde der Inhalt im Kopf. Außenspeicher waren und sind bei dieser Austauschform nicht zwingend notwendig. Auch zu unserer Zeit wird diese Austauschform im Alltag hauptsächlich praktiziert. Ohne dauerhafte Mißverständnisse. Deshalb können wir uns auch ohne die so genannten wissenschaftlichen „Stützen“ verständigen. Wäre die Qualität