Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich
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Jeder Austausch von Angesicht zu Angesicht, seien es Erfahrungen, seien es Beobachtungen, seien es Meinungen, seien es Phantasien, seien es Berichte über Geschehnisse, seien es Lügengeschichten, beeinflußt uns, verändert uns und wir wachsen dadurch, in welche Richtung auch immer. Wir hören und sehen uns dabei unmittelbar. Ohne Vermittlung durch technische Hilfsmittel, bzw. Geräte. Wir registrieren die Betonungen der Sprache und wir beobachten die Regungen im Gesicht. Wir sind gegenseitig unmittelbar Fragen und Kommentaren zugänglich. Keine andere Austauschform kann wirkungsvoller sicherstellen, daß der auszutauschende Inhalt unmißverständlich und wahrheitsgetreu übermittelt werden kann.
Wir wissen nicht, seit wann vorsätzlich gelogen wird und seit wann es Fälschungen gibt. Wir wollen uns auch nicht ablenken lassen mit müßigen Fragen wie: seit wann wir lügen, seit wann wir fälschen, seit wann wir aus Eigennutz andere aufs Kreuz legen, oder auch wann und wo zum ersten Mal eine Fälschung als solche später aufgeflogen ist. Für uns ist die Erkenntnis wichtig, daß unvermeidbare, aber doch wahrgenommene Fehler, verursacht durch die Tücke des Objekts, uns immer in die Versuchung führen können, vergleichbare Fehler von anderen unbemerkt einzuschleusen, wenn es uns nützt. Und uns nützen heißt mit anderen Worten natürlich, anderen zum Nachteil gereichen.
Wie groß ist eigentlich das Risiko beim Fälschen? Auf jeden Fall ist das Risiko kalkulierbar. Wahrscheinlich fliegt es gar nicht auf. Wahrscheinlich fliegt es so spät auf, daß der Fälscher nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Und sollte die Fälschung doch zeitig auffliegen, wie soll entschieden werden, ob es sich um eine Fälschung handelt oder nur falsch ist, durch die „Tücke des Objekts“, so zu sagen! Selbst wenn alle Wahrscheinlichkeit dafür sprechen würde, daß die Tücke des Objekts auszuschließen ist, gäbe es noch viele Möglichkeiten sich herauszureden. Wer kennt das nicht? Wer erinnert sich nicht an die vielen „black-outs“ der Regierenden jüngster Zeit?
Nun: die gesellschaftliche Kategorie, einem nutzen – dem anderen schaden bzw. Vor– und Nachteil setzt Verteilung der begehrten Objekte voraus. Seit wann? Wir wollen es nicht untersuchen. Aus schon bekannten Gründen. Warum sollen wir uns auf den Holzweg der Erkenntnisgewinnung begeben? Also bleiben wir bei Verteilung. Und alles was begehrt ist, wird auch knapp. Warum nicht bei den an sich gleich zu verteilenden begehrten Objekten, uns in dem Maße begünstigen, wie es auch durch die „Tücke des Objekts“ hätte passieren können. Wo ist das Risiko? Fest steht, daß schon seit einigen Jahrhunderten gefälscht und gelogen wird. Mit steigender Tendenz. Gestützt durch die rasend schnell wachsenden, vermarktbaren Technologien. Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Manipulation eines Originals nicht mehr feststellbar. Diese Technik macht es möglich, daß beliebig viele Kopien des Originals und Kopien von Kopien ohne Qualitätsverlust hergestellt werden können. Nicht eine gewaltige Kulturleistung? So wird uns diese Technologie verkauft. Sie leistet noch mehr. Sie öffnet der Fälschung Tür und Tor. Denn im Klartext heißt diese Technologie nämlich, daß ein Dokument, ein Bild, ein Klang in Ziffern aufgelöst, beliebig oft neu geschrieben und wieder in Dokument, oder Bild oder Klang umgewandelt werden kann. Natürlich können unterwegs einige Ziffern verloren gehen, oder auch verschwinden oder aber auch hinzugefügt werden. Am Ende steht eine Endanfertigung und sie steht eben, ausschließlich und endgültig. Hauptsache sie ist schön und vermarktbar. Fortschritt eben!
Kehren wir zurück zur Schrift. Mit der Erfindung der Schrift als Mittel (Medium) des Austausches (der Kommunikation) gehen uns die Höhen und Tiefen des Klangs beim Erzählen und die Regungen im Gesicht als Ausdruck des Gemütszustandes verloren. Auch die Gelegenheiten zur Klarstellung und zur gemeinsamen Einschätzung. Es ist eigentlich unwichtig herausfinden zu wollen, wo und wer auf dieser Erde sich zum ersten Mal als Erfinder der Schrift brüsten konnte. Und wer sich brüsten will, muß es wohl nötig haben. Es wäre auch ohnehin eine Reise in die Sackgasse, eine Beschäftigungstherapie, typisch für eine „Guinnessbuch-Kultur“ oder, was noch schlimmer wäre, ein Ablenkungsmanöver von wesentlichen Fragen. Denn selbst wenn zweifelsfrei festgestellt werden würde, wo, wann und von wem die Schrift zuerst erfunden wurde, hätten wir als Menschheit davon keinen brauchbaren Erkenntnisgewinn. Eher eine Vergeudung von Energie und Zeit, die zum wirklichen Erkenntnisgewinn dann fehlen könnte. Zum Beispiel bei folgenden Überlegungen.
Es ist allseitig unbestritten, daß die Erde einige Millionen Jahre und die Menschheit einige hunderttausend Jahre älter ist als Moses uns „glauben machen“ will bzw. die christliche Zeitrechnung zählt. Es ist auch unbestritten, daß der Mensch als gesellschaftliches Wesen vom Beginn an über den bloßen Reflex auf Umweltreize hinaus Erfahrungen gemacht, über die Erfahrungen nachgedacht hat, Erfahrungen prognostiziert, die Bedingungen im Umfeld gespeichert, mit den Zeitgenossen ausgetauscht, sich dabei gegenseitig ergänzt und anderen berichtet hat. Diese unmittelbaren Beobachtungen und Erfahrungen und deren Weitergabe markieren die Geburtsstunde der Wissenschaft. Wir können beim besten Willen nicht nachvollziehen, wenn gemeinhin behauptet wird, daß die wirkliche Wissenschaft die „moderne Wissenschaft“ sei, die durch Experimente, also durch das Wiederholen unter kontrollierten Bedingungen gekennzeichnet ist und etwa seit 300 Jahren praktiziert wird. Beginnend in Europa, nunmehr mit steigender Tendenz weltweit verbreitet. Diese Zäsur hat sich nicht so einfach willkürlich eingeschlichen, sie ist nicht nur falsch, sie ist eine Fälschung.
Uns fehlt das Vermögen zu glauben, daß die Akteure der „modernen Wissenschaft“ sich dessen nicht bewußt sind bzw. gewesen sind, daß ihre Tätigkeit auf den Tätigkeiten ihrer Vorfahren basierte. Und daß jedes Experiment vorhandenes Wissen voraussetzt. Logisch kann es keine Hypothesen ohne Thesen geben, ebenso keine Thesen ohne einen Sockel aus gesichertem Wissen. Wie konnte es dennoch geschehen, daß die „modernen Wissenschaftler“ nur das eigene Tun als die wirkliche Wissenschaft ausgeben, und damit alles frühere als nicht wissenschaftlich herabwürdigen? Und dies angesichts jener mühsamen Ansammlung von Beobachtung, Wahrnehmung, Deutung, Bewertung, Meinungsbildung, Austausch und der fortwährenden Überprüfung im wirklichen Leben. Nicht im Labor!
Wie kann es bis zu unseren Tagen geschehen, daß diese Fälschung auch noch weltweit vermarktet werden kann? Eine interessante Frage und eine wichtige Frage. Wir müssen diese Frage hier als einen Denkposten belassen. Wir halten nur fest, daß die Zäsur „moderne Wissenschaft“ nicht nur falsch ist, sie ist auch problematisch, weil hiermit unter der Hand ein weiter Bereich menschlicher Erfahrung durch diese Verengung ausgegrenzt wird, nämlich die Metaphysik. Alles was das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ übersteigt, soll es auch nicht geben. Wir werden sicherlich keinen Widerspruch mit unserer Behauptung ernten, daß das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ sehr vom Markt geprägt wird.
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Aber kehren wir zu dem zurück, was noch allseitig unbestritten ist, nämlich die Geburtsstunde des Zusammentragen und des Speichern von Wissen im Kopf durch unsere Vorfahren. Wir stellen uns vor, daß sie als wachsame Beobachter (Empiriker) bald gemerkt haben, daß sich beim Abrufen der im Kopf gespeicherten Erfahrungen Fehler einschleichen können. Was tun? Viele Wege müssen gegangen worden sein, um das einmal gewonnene Wissen auch für die Nachwelt sicher zu erhalten. Wir können nachvollziehen, daß die Technik des Absichern eine Bandbreite gehabt hat. Von den kollektiven Übungen der fehlerfreien Abrufens, Konstruktion von Eselsbrücken, Dichtung von lebensnahen Erzählungen über unterschiedlichste Geschehnisse, Verse über Ereignisse und Erkenntnisse mit unterschiedlicher Metrik, Klängen, bis hin zu Markierungen außerhalb des Kopfspeichers auf witterungsbeständigen Materialien. Und die Markierungen sind über Zeichnungen, graphische Darstellungen, Symbole zu Buchstaben und zur Schrift geworden. Durch die Vielfalt der überlieferten Medien unterschiedlicher Reichweite und Qualität legen unsere Vorfahren uns nah, daß sie über einen möglichen Verlust des von Angesicht zu Angesicht gewonnen Wissens sehr besorgt gewesen sind und deshalb möglichst viele Außenspeicher als Stütze des Kopfspeichers anlegten. Damit übermitteln sie uns auch, daß sie keinen der Außenspeicher als