Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
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Natürlich wehrte ich mich dagegen, nicht sehr laut, das ist wahr, aber doch kräftig. Dürfte man denn die Gefühle von Freunden, von Verwandten und sogar von Fremden völlig außer acht lassen? Ich fragte Frau Fyne, ob sie es nicht für eine Pflicht halte, nicht nur auf die natürlichen Empfindungen, sondern sogar auf die Vorurteile unserer Mitmenschen eine gewisse Rücksicht zu nehmen?
Ihre Antwort warf mich um.
»Nicht für eine Frau.«
Gerade so. Ich gebe zu, daß ich platt auf dem Rücken lag. Und in dieser Liegestellung offenbarte sich mir der wahre Sinn von Frau Fynes Frauenrechtlerei. Es war keine politische, keine soziale, es war eine Lehre wie ein Hammerschlag. -- Zum praktischen, persönlichen Gebrauch bestimmt. Du würdest es mir nicht danken, wenn ich sie dir des langen und breiten auseinandersetzen würde. Ich glaube ja auch nicht, daß sie selbst mich ganz eingeweiht hat.
Es müssen noch einige Punkte darin gewesen sein, die für Männerohren nicht geeignet waren. In Kürze aber lief es wohl, soweit ich in meiner Bestürzung der schauerlichen Einfalt zu folgen vermochte, etwa darauf hinaus: daß keine Rücksicht, kein Feingefühl, keine Zärtlichkeit, kein Bedenken eine Frau (die ja durch die bloße Tatsache ihres Geschlechts zum Opfer der Lebensverhältnisse vorherbestimmt war, wie sie die eigennützigen Leidenschaften, die Laster und die unerträgliche Herrschsucht der Männer geschaffen hatten), daß also nichts der Art eine Frau hindern sollte, auf dem kürzesten Wege für sich selbst die denkbar günstigste Daseinsform zu erstreben. Sie hatte sogar das Recht, aus dem Leben zu gehen, ohne Rücksicht auf irgend jemandes Gefühl oder auf Schicklichkeit, da ja so vielen Frauen durch die kurzsichtige Niedertracht der Männer das Leben tatsächlich unmöglich gemacht wurde.
Ich sah sie an, wie sie da unter der Lampe saß, um ein Uhr morgens, mit ihrem reifen, glatten, männlich geschnittenen Gesicht, dem die Müdigkeit etwas von seiner Frische genommen hatte; sah ihre Augen, getrübt durch diese sinnlose Nachtwache. Ich sah auch Fyne an. Der Schmutz begann auf ihm zu trocknen. Auch er war offenbar müde. Müde von der Entfaltung aller der Würde. Doch bewahrte er unbeugsam seine feierliche Miene und schien bereit, alles auf sich zu nehmen, wie es einem guten und treuen Gatten zukommt.
›Ach so,‹ sagte ich, ›keine Rücksichten ... Nun, ich hoffe nur, daß es Ihnen so recht ist.‹
Sie machten mir mehr Spaß, als ich mir in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Nach dem ersten Schreck begann ich mich ziemlich rasch zu erholen. Die Weltordnung war fest genug. Er war Staatsbeamter, und sie sein gutes, treues Weib. Wenn man sich aber erst einmal mit Menschen auseinanderzusetzen beginnt, dann darf man auf alles, aber auch auf alles gefaßt sein. So hielt auch meine Verblüffung nicht lange an. Wieviel von dieser gewissenlosen und weltfremden Lehre sie vor ihren jungen Freundinnen zu entwickeln pflegte, die für ihren Gatten nur gleitende Schatten waren -- das konnte ich nicht sagen. Sie behielt wohl schwerlich etwas für sich. Und er sah zu, stimmte bei, billigte alles, weil eben diese netten jungen Mädchen für ihn nur Schatten waren. Oh, übertugendhafter Fyne! Er schlug die Augen nieder. Es paßte ihm nicht ganz. Aber ich sah ihn mit heimlichem Haß an, denn er hatte mich unter falschen Vorwänden dazu verführt, hinter ihm drein zu rennen.
Frau Fyne hatte für mich nur ein sehr ausdrucksvolles, sehr selbstsicheres Lächeln. ›Oh, ich verstehe sehr gut, daß Sie die volle Verantwortung auf sich nehmen‹, sagte ich. ›Ich bin die einzig lächerliche Figur in diesem -- diesem -- ich weiß nicht, wie ich es nennen soll -- Theaterstück. So oder so, ich habe hier nichts mehr zu tun, und darum will ich gute Nacht sagen, oder guten Morgen, denn es muß ein Uhr durch sein.‹ --
Vor dem Abschied erklärte ich mich aber doch in simplem Anstand bereit, ein paar Telegramme mitzunehmen, wenn sie welche abschicken wollten. Meine Wohnung läge näher zur Post als die ihre, und ich wollte die Telegramme als erstes am nächsten Morgen hinbringen. Ich nahm an, daß sie sich wenigstens wegen des Gepäcks mit den Verwandten der jungen Dame in Verbindung setzen wollten ...
Fyne, der schon recht erschöpft aussah, lehnte dankend ab.
›Es ist wirklich nicht ein einziger da‹, sagte er sehr ernst.
›Nicht ein einziger!‹ rief ich aus.
›Tatsächlich nicht‹, schnitt Frau Fyne ab.
Und meine Neugier wuchs wieder.
›Ach, ich verstehe, eine Waise!‹
Frau Fyne wandte traurig den Blick ab, und Fyne sagte eifrig: ›Ja‹, schränkte aber dann diese Bejahung durch den Zusatz ein: ›Bis zu einem gewissen Grade.‹
Nun kam mir selbst plötzlich meine an Erschöpfung grenzende Müdigkeit zum Bewußtsein. Ich verbeugte mich vor Frau Fyne und verließ die Villa, fand mich aber draußen der sternenflimmernden Unendlichkeit gegenüber. Die Nacht war noch nicht weit genug vorgeschritten, als daß die Sterne verblaßt gewesen wären, und die Erde schien mir in noch tieferen Schlaf versunken, -- vielleicht weil ich jetzt allein war. Da ich Fyne nun nicht neben mir hatte, ließ ich mich in der Richtung des Bauernhauses zu treiben. Es war kein Gehen. Sichtreiben -Lassen ist die einzige nicht anstrengende Art der Bewegung (frag' irgendein Schiff, ob das nicht stimmt) und daher dem Nachdenken förderlich. Und ich grübelte: Wie kann man eine Waise sein ›bis zu einem gewissen Grade‹? Keine noch so nachdrückliche Feierlichkeit konnte diese Behauptung anders als grotesk erscheinen lassen. Ein wie ungewöhnlicher Zustand! Sehr wahrscheinlich war nur ein Elternteil nicht mehr am Leben. Doch nein, das konnte nicht sein, denn Fyne hatte knapp zuvor gesagt, daß ›nicht ein einziger‹ da war, mit dem man sich hätte in Verbindung setzen können. Niemand! Und da mir dabei Frau Fynes schnippisches ›Tatsächlich nicht!‹ einfiel, so hefteten sich von da an meine Gedanken an sie, da sie ihnen mehr Anhalt zu bieten schien.
Ich fragte mich ernstlich -- und der Frage gesellte sich der Zweifel --, ob sie selbst wohl die Theorie verstand, die sie mir an den Kopf geworfen hatte. Man kann alles aussprechen, man sollte es sogar tun, vorausgesetzt, daß man weiß, wie es gesagt werden muß. Das nun wußte sie augenscheinlich nicht. Sie war nicht klug genug dazu, hatte keine Weltkenntnis. Sie hatte ein paar Worte aufgeschnappt, so wie ein Kind vielleicht giftige Pillen findet und nun mit den ›süßen, kleinen Kügelchen‹ spielt. Nein! Die als Haussklavin erzogene Tochter von Carleon Anthony und der kleine Fyne von der Regierung (diese Blüte der Gesittung!) -- sie waren keine klugen Leute. Sie waren guter Durchschnitt, ernsthaft, ohne Lächeln und ohne Arglist. Doch er hatte seine Feierlichkeit, und sie hatte ihre Hirngespinste, heftig, roh, aufrührerisch. Und ich machte mir nicht ohne Trauer klar, daß all der Aufruhr, die Entrüstung, der Widerspruch, die Anfälle von Schmerz und Wut nichts waren als die Lebensäußerung eines sinnenbegabten Wesens, das nach seinem Anteil an der Freude, an Form, Farbe und Eindrücken verlangte, dem einzigen Reichtum in unserer Sinnenwelt. Ein Dichter mag ein einfacher Mensch sein, aber es ist sein Schicksal, veränderlich, launenhaft zu sein, eigenwillig und reizbar. Ich suchte mir die zahllosen Gründe vorzustellen, mit denen der heimgegangene Sänger der Gesittung vor sich selbst die Quälereien gegen seine Angehörigen gerechtfertigt hatte. Da Dichtern gemeinhin die Voraussicht in Fragen des praktischen Lebens fehlt, so hatte ihm die Angst vor den möglichen Folgen wohl gefehlt. Jawohl! Die Fynes waren ausgezeichnete Leute, aber Frau Fyne war nicht umsonst die Tochter eines Haustyrannen; ihre Auflehnung kannte keine Grenzen. Aber sie waren ausgezeichnete Leute. Offenbar hatten sie sich gegen das junge Mädchen sehr gütig erwiesen, dessen Stellung in der Welt etwas schwierig schien, da es das Gesicht eines Opfers mitbrachte, dazu einen offenkundigen Mangel an Ergebung und überdies die sehr merkwürdige Eigenschaft einer Waise ›bis zu einem gewissen Grade‹.
Das waren meine Gedanken, doch hörte ich sehr bald auf, mir über alle die Leute den Kopf zu zerbrechen. Ich fand,