Konfrontation mit einer Selbstvernichtung. Stefan G Rohr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Konfrontation mit einer Selbstvernichtung - Stefan G Rohr страница 13
Es ist somit kaum möglich, einen anderen Standpunkt einzunehmen, als die Tatsache, dass die „Liebe“ bei unserem verlorenen Menschen so stark in den Hintergrund getreten ist, dass diese für ihn keine Relevanz mehr hatte. Und das wiederum lässt einen weiteren Schluss zu: Der Todeswunsch muss derart groß gewesen sein, dass das Opfer der Liebe hinzunehmen war. Und ja, um sich seiner eigenen als unerträglich verspürten Schmerzen befreien zu können, musste die Liebe in der finalen Phase verdrängt und vielleicht sogar schlussendlich abgelehnt/bekämpft werden.
Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen jetzt gerade etwas durch den Kopf schießt, was Sie vielleicht in Ihrem Leben schon diverse Male in verschiedentlichen Situationen gedacht oder gar gesagt haben: „Das würde ich Dir nie antun!“ Und mit diesem Selbstverständnis begegnen Sie nun auch ihrem geliebten Menschen, den Sie per Suizid verloren haben. Wenn dieser Sie wirklich geliebt haben würde, dann könnte er Ihnen das doch nicht antun!
Der Mensch hat Sie mit seinem Tod selbst herbeigeführten konfrontiert!
Hat Ihnen vielleicht zugemutet, ihn tot aufzufinden!
Ihren Schock in Kauf genommen!
Sie brutal in ein Trauma gestürzt!
Sie fühlen sich verraten!
Sie fühlen sich vielleicht sogar missbraucht!
Sie fühlen sich entwurzelt, beraubt!
Sie erkennen, wie Sie getäuscht wurden, belogen, in die Irre geführt!
Sie müssen davon ausgehen, dass ihm Ihre jetzt entstandenen Probleme, Ihr Schmerz, Ihr Leid völlig egal waren!
Ihr Leben fühlt sich vollkommen zerstört an.
Ihr Leben wird nie wieder so sein wie es einmal war.
Sie haben vielleicht sogar ein Trauma davongetragen, leiden selbst an Depressionen, an Ängsten und sind bis ins tiefste Innere verzweifelt.
Ich las in meinen Recherchen von einer Suizid-Hinterbliebenen, deren Mann sich wenige Monate zuvor in den Tod gestürzt hatte. Sie berichtete in einem Interview über ihre Qualen und Leiden, wobei sie aber zu einem Resümee kam, das ich mir auch schon selbst vor Augen geführt hatte: „Wenn mein Mann auch nur annähernd gewusst hätte, was er mir mit seinem Tod antuen würde, dann hätte er es nicht übers Herz gebracht, sich selbst zu töten.“ Setzen wir die gewohnte Liebe und Fürsorge voraus, so erscheint es uns angesichts der eigenen Verzweiflung und der unsäglichen Leiden für ausgeschlossen, dass man derlei seinem geliebten Menschen antun kann. Die Liebe hätte diese doch verhindert – ergo wird unser Verlorener einfach nicht gewusst haben, was er mit seiner Tat bei uns anrichtet.
Aber es ist nicht so, jedenfalls kann davon nicht generell ausgegangen werden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass an die Stelle der Liebe die Konzentration auf die Ausführung des eigenen Todes trat. Die Liebe wäre nämlich hinderlich gewesen. Derlei Gedanken können die Hölle bedeuten. Sie haben nicht nur den Tod Ihres geliebten Menschen zu verkraften, zudem auch noch die vermeintliche Versagung der Liebe in den vielleicht wichtigsten Stunden dieses Menschen. Was mag alle gezeigte und bekundete Liebe zuvor noch bedeuten, wenn in einem solchen Moment nichts mehr von dieser übrig zu sein scheint? Schlimmer noch: diese mit einem irrationalen, verwirrten Wunsch nach Tod ausgetauscht wurde!
Aber was ist, wenn wir einmal versuchen, eine andere Perspektive einzunehmen, empathisch die Gefühlswelt unseres geliebten Menschen einzunehmen, wenngleich uns das gewiss nur bruchstückartig gelingen kann?
Wollte uns der Mensch vielleicht von sich entlasten? Aus Liebe zu uns, aus Fürsorge, aus Anerkennung unserer bisherigen Zuwendung oder Aufopferung?
War er der Meinung, er hätte uns nicht „verdient“? Waren wir zu „gut“ für ihn, konnte er unsere Erwartungen nicht mehr erfüllen?
Befürchtete dieser Mensch vielleicht, dass seine Probleme dazu führen würden, dass wir ihn abweisen, wohlmöglich sogar verlassen werden?
Ist er einer tragischen Fehleinschätzung unterlegen, dass wir es ohne ihn im Leben „besser“ haben würden?
Wollte dieser Mensch uns nicht mehr zumuten, was er für sich selbst an Zukunft (z.b. Krankheit, Schmerz, Siechtum) befürchtete?
Bestand wohlmöglich die Auffassung, dass wir ohne ihn (nach seinem Tod) zu einem besseren Leben gelangen könnten, so zum Beispiel eine (neue) Liebe finden würden, die wir „verdienen“?
Glaubte unser geliebter Mensch vielleicht, unsere Wünsche nicht (mehr) erfüllen zu können?
Bestand ein Entscheidungskonflikt zwischen „uns“ und einer anderen Priorität (z.B. Familie), den er gegen „uns“ nicht erfolgreich beenden konnte?
Welche weiteren Aspekte und Überlegungen sie auch immer mit dem gleichen Tenor für sich anführen werden, sie haben mit den vorgenannten eines gemeinsam: sie sind nichts anders als ein Liebesbeweis. Der vollzogene Suizid basierte so wohlmöglich auf der unfassbar starken Liebe zu Ihnen, auch wenn das Ergebnis, der Endeffekt, aus unserer Wahrnehmung des Hinterbliebenen das von allen möglichen Varianten extremste Gegenteil vermuten lässt.
Mir sagte der Arzt, der nicht nur von der Polizei zur Leichenschau gerufen wurde, sondern zudem auch unser Hausarzt war, dass er nach seiner jahrelangen Erfahrung und der Begegnung mit diversen Suiziden zu der Auffassung gelangt sei, dass Menschen, die sich im eigenen Hause selbst töten, dieses aus „Liebe“ tun. Ich verstand ihn nicht sofort und fragte, wie er das meinen würde. Seine Antwort war einfach: Die Wahl des eigenen Hauses, der gewohnten Umgebung, des Ortes, an dem die Liebe vorherrscht, würde in der schwersten Stunde des Menschen (der Selbsttötung) der Beweis sein, dass dieser die Liebe besonders stark empfindet. Auch die Tatsache, dass die eigene Leiche nach dem Suizid zumeist vom Partner gefunden wird, stützt sich auf Liebe. Denn es ist dieser Mensch, der einen in dieser entmenschlichten Lage finden soll, und kein Fremder.
In unserem Schmerz, in all unserer Verzweiflung, fällt es schwer, derlei Gedanken anzunehmen oder zu Ende zu führen. Ich erlaube mir aber die Empfehlung, dass Sie es versuchen, liebe/r Leser/in. Versuchen Sie die vielleicht nur noch rudimentär erkennbaren Liebessignale ohne Zorn und Enttäuschung zu sehen, diese in die Welt der Normaldenkenden proportional zu übersetzen. Es besteht auf diese Weise vielleicht die Chance, dass Sie den Nukleus Ihrer gemeinsamen Liebe, den Wesenskern Ihrer Verbindung zu dem verlorenen Menschen, erkennen und nicht mehr daran zweifeln, dass dieser Sie in großartiger Weise geliebt hat. Vielleicht sogar mehr als sein eigenes Leben.
Wie passt das nun mit meiner Einlassung zu Beginn dieses Kapitels