Konfrontation mit einer Selbstvernichtung. Stefan G Rohr

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Konfrontation mit einer Selbstvernichtung - Stefan G Rohr

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(aus unserer Sicht) „lösbare Problematik“ aus dem Leben getreten werden wollte. Wir raufen uns viel mehr die Haare, weil doch „alles“ regelbar, geraderückbar gewesen ist.

       Wie konnte sie/er nur so blind sein …?

      Die heutige Wissenschaft hat innerhalb der Suizidforschung feststellen können, dass es nicht „den einen“ Grund, auch nicht „die eine“ psychische Störung (inkl. Ursache) gibt, die den Suizid ausmachen. Es kommt eine Reihe von ungünstigen Gründen, Zusammenhängen und psychischen Einflüssen korrelierend zusammen, so wie ein Taifun von verschiedensten meteorologischen Zusammenhängen abhängt, um seine verheerenden Eigenschaften entwickeln zu können.

      Häufig begegnen wir einem für uns völlig unverständlichen Suizidfall mit einer Logik, die es uns erklärlicher machen soll: eine Kurzschlussreaktion. Das erklärt zwar nicht das Unerklärliche, ist aber wenigstens entlastend zu verstehen: bei einem Kurzschluss sind wir nämlich alle machtlos. Spontaner Suizid aus einer plötzlich erkannten Ausweglosigkeit oder Verzweiflung, Angst oder traumatischen Erinnerung? Ja, es gibt sie, diese „Kurzschlüsse“, wenngleich sie bei Weitem seltener vorkommen sollen, als es im Allgemeinen angenommen wird. Die Fachwelt hat hierbei die Grenzen äußerst eng gefasst, und es werden nur die Fälle gewertet, die dem Charakter eines tatsächlichen „Kurzschlusses“ entsprechen. So zum Beispiel der Gast in einem Restaurant, der ohne Vorwarnung oder vorausgegangene Signale weiß wie Kreide wird, aufspringt und sich aus dem Fenster in den Tod stürzt, weil ein neuer Gast das Lokal betreten hat, dessen Antlitz den Suizidenten an ein grausames, traumatisches Kindheitserlebnis erinnerte (von diesem Fall habe ich tatsächlich gelesen). Hierbei soll nun nicht das Motiv hinterfragt werden – es sind allein die Spontanität und der „Kurzschluss“, welche diese Suizidform beschreiben.

      Suizid ist die schärfste Form der Aggressivität. Und diese richtet sich gegen sich selbst. Empfunden wird vielleicht völlige Wertlosigkeit, große Fehlerhaftigkeit, Belastung für andere, etwas nicht mehr verdient zu haben, Unzufriedenheit mit sich selbst (Leistungsanspruch, Perfektionismus, Karrierestreben, sich zurückgesetzt oder abgelehnt fühlen). Jemand, der aggressiv geworden ist, hat alle Ehrerbietung verloren. Die Aggression gerät vielleicht sogar zu einer Form der Selbstbestrafung, zumindest doch aber zu einer „gerechten“ Maßnahme, da es anderen besser ergehen wird, wenn man selbst nicht mehr existiert. Zweifellos verfolgen Menschen mit ihrem Suizid vereinzelt auch das Ziel einen anderen Menschen (oder eine Gruppe) zu bestrafen, zu belehren, sich zu rächen. In diesen Fällen richtet sich die hohe Aggressivität zwar nach Außen, das eigene Leben wird aber als Mittel zum Zweck eingesetzt – die Aggression ist gleichermaßen auch auf sich selbst ausgerichtet.

      Ich habe vor kurzem von einem Sportler lesen können, der einst mit verkrüppelten Beinen zur Welt kam und sich mit Eintritt seiner Volljährigkeit für die Amputation entschied. Er empfand die Zukunft mit Prothesen erstrebenswerter als weiterhin mit seiner Verkrüppelung zu leben. Heute ist er einer der weltweit führenden Sportler in der Leichtathletik. Das hat nichts mit Aggressivität zu tun – vielmehr mit einer Abwägung von Wohl und Wehe in Aussicht auf eine bessere Zukunft. Vor allem aber kostet diese Entscheidung nicht das Leben – ist dennoch mit dem Suizid an einem Punkt vergleichbar: dem eigenen Willen etwas Drastisches zu tun, was Erlösung bringen soll.

      Ein gesunder Mensch wird es sich nur schwer vorstellen können, sich freiwillig die Beine amputieren zu lassen. Nur aus einer Logik (Bilanz) heraus, kämen wir zu dem Schluss (und der Nachvollziehbarkeit), einen solchen Schritt zu befürworten, wenn wir die Verbesserung der Lebensqualität gegenüberstellen. Streichen wir den Wortteil „Lebens“, dann bleibt nur noch „Qualität“ übrig. Der Wille zu sterben zielt auf eine „Qualitätsverbesserung“ ab, denn das „Leben“ ist für den Menschen höchstwahrscheinlich bereits schon seit längerer Zeit nicht mehr erträglich, und der Wille zu sterben wird damit das bestimmende Moment – der eigene Tod ist qualitativ das Beste.

      Es gelingt uns Hinterbliebenen nur sehr, sehr schwer diesen Willen unseres geliebten Menschen zu verstehen – und noch viel schwerer diesen zu akzeptieren. Täten wir das vielleicht zu voreilig und oberflächlich, erklärten wir uns mit seinem Vorgehen und seinem (Frei)Tod sogleich einverstanden. Und das wollen wir gewiss nicht ausstrahlen. Ich verfolge an diese Stelle, sehr geehrte/r Leser/in, ganz sicher nicht die Absicht, Ihnen die Absolution des Suizids Ihres geliebten Menschen abzuringen. Vielmehr wünsche ich mir, dass Sie in Ihre eigene Bewertung Ihrer Tragödie einbeziehen, dass dieser Mensch einem übermächtigen Willen unterworfen war, der das Weiterleben kategorisch ausschließen ließ. Und so wie das dem (kranken/gestörten) Kalkül des Suizidenten unterlag, so ist es allein unsere eigene (gesunde, zutreffende) Betrachtung, dass dieser damit so tragisch falsch lag.

      Wir sind im Allgemeinen durchaus in der Lage, Schmerzen eines anderen so zu antizipieren, dass wir dessen Leid erkennen und in unserer Vorstellungswelt bewerten können. Auch wenn wir zum Beispiel die Zahnschmerzen unseres Kindes selbst nicht verspüren, so wissen wir aus eigener Erfahrung, wie sehr einen derlei peinigen können. Zahnschmerzen sind ein Teil unserer Erinnerung, eine Lebenserfahrung, die in der Regel nicht vergessen werden kann. Sie bleibt präsent, eingebrannt in unserem Bewusstsein. Den „Zahnschmerz“ unseres geliebten Menschen, der diesen zum Suizid hat kommen lassen, können wir aber nicht nachempfinden, da wir diesen selbst so nie erfahren haben. Dessen Leid, Verzweiflung, Ängste und seine empfundene Ausweglosigkeit sind für uns komplett abstrakt und daher nicht begreiflich. Unsere Zähne sind seit jeher intakt, nicht kariös, wiesen noch nie eine Wurzelentzündung auf. Wir sind somit per se gar nicht in der Lage, das Leid des Anderen auch nur annähernd zu verstehen. Und erst Recht können wir mit „gesunder Psyche“ nicht nachempfinden, was eine „kranke/gestörte“ dazu kommen lässt, sich zu suizidieren.

      Unsere Empfindung, dass der frei gewählte Tod auf einer tragischen Fehlinterpretation beruht, kann somit nahezu unmöglich das Drama erfassen, welches unserem geliebten Menschen alle Zuversicht und jedweden Lebenswillen geraubt hat. Alle unsere Wertungen sind somit nahezu blanke Theorie, basierend auf der Tatsache, selbst „gesund“ und „psychisch stabil“ zu sein. Begegnen wir einem an Demenz Erkrankten, dann versuchen wir die Auswirkungen dieser Krankheit zu berücksichtigen. Was Demenz wirklich bedeutet, wissen wir nicht, können uns auch gar nicht vorstellen, was im Kopf des Kranken vor sich geht. Wir wissen nur: dieser Mensch ist nicht mehr mit Normalmaßstäben zu messen – und wir berücksichtigen diese Erkenntnis, soweit es im Zusammenspiel mit dem Betroffenen eben geht. Die Basis aller Wertungen dabei: Wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun. Und dieser kann für sein Leid nichts, er ist selbst ein „Opfer“.

      In ebensolcher Weise müssen wir uns bei einem Suizid positionieren. Unser geliebter Mensch, den wir nun so tragisch verloren haben, befand sich in einem Zustand, den wir weder verstehen, noch nachempfinden können. Aus diesem entsprang der unbedingte Wille zum Sterben. In der Psyche des Suizidenten hat ein Prozess stattgefunden, der nur in seiner eigenen und ganz isolierten Empfindungswelt den eigenen Tod als Erlösung verstehen ließ. Und es entstand der Wunsch zur Selbstvernichtung, zur Auslöschung, zur Beendigung des eigenen Martyriums.

      Wir argumentieren im Nachgang mit vermeintlich bestechender Logik: Die Kraft, die unser geliebter Mensch für seinen Suizid aufgewendet hat, hätte mehr als ausgereicht, das Leben fortzusetzen, die Probleme zu lösen, einen positiven Weg zu gehen. Damit werden wir nicht falsch liegen – zumindest theoretisch. Doch an einer Wegegabelung haben wir uns alle zu entscheiden, ob wir nach links oder rechts gehen. Unser geliebter Mensch hat sich nicht nur für eine dieser Richtungen entschieden, er hat alle Kraft und Energie aufgewendet, die für ihn einzig richtige Entscheidung zu treffen. Eine gewaltige Willensleistung, an deren Ende die vollkommene Selbstvernichtung stand.

      Kommunikationsdefizite in präsuizidalen Phasen

       Um etwas zu sagen, ist immer Zeit vorhanden,

      

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