Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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»Sind Sie also doch gekommen, Tallantire«, sagte er. »Schön. Aber wir sind alle krank hier, und ich bezweifle, ob ich dreißig Mann in den Sattel kriege. Aber - bub-bub-bub - wir tun's herzensgern. Halt: glauben Sie, ist das da eine Falle, oder eine Lüge?« - er schob Tallantire einen Bogen Papier hin; darauf stand in Gurmukhi-Kraxelfüßen: »Junge Füllen kann man nicht zurückhalten. Wenn der Mond untergeht, hinabsteigt in die vier Dörfer vom Jagai-Paß, wollen sie zum Freßtrog in der Nacht!« - und darunter in runder englischer Schrift: »Dein aufrichtiger Freund.«
»Braver Kerl!« sagte Tallantire. »Das ist Khoda Dad Khans Werk. Es sind die einzigen englischen Worte, die er sich gemerkt hat; ich erinnere mich genau. Er bildet sich einen Mordsfetzen darauf ein. Er spielt also auf eigene Faust Karten gegen den blinden Mullah, der Fuchs.«
»Ich kenne die Politik der Khusru Kheyl nicht, aber wenn Sie zufrieden sind, dann bin ich's auch«, sagte Tommy Dodd. »Man hat den Brief gestern nacht übers Tor hereingeworfen, und da sagte ich mir, wir müßten uns einen heftigen Ruck geben und nachforschen, was los ist. Ach Gott, wenn nur das Fieber nicht wäre! Glauben Sie, es wird ein festes Geraufe werden?«
Tallantire schilderte in kurzen Worten die Sachlage, und Tommy Dodd pfiff dazu oder schüttelte sich zur Abwechslung im Fieber. Der ganze Tag war sodann der Strategie und den Finessen der Kriegskunst geweiht, sowie der Wiederbelebung der Invaliden, bis gegen Abend glücklich zweiundvierzig Soldaten auf den Beinen standen, mager, hinfällig und ungekämmt, auf die Tommy Dodd mit Stolz blickte, sie mit folgenden Worten anredend: »Ihr Männer! Wenn ihr sterbt, so fahrt ihr zur Hölle. Deshalb rafft euch auf und bleibt hübsch am Leben! Wenn ihr aber zur Hölle fahrt, dann werdet ihr es dort heißer finden als irgendwo anders, und von kaltem Fieber wird nicht mehr die Rede sein. Deshalb fürchtet euch nicht vor dem Tod. Kehrt euch! Marsch!« Die Leute grinsten und gingen.
V
Lang, lang wird die Erinnerung an jenen nächtlichen Überfall auf die Tal-Dörfer fortleben in den Herzen der Khusru Kheyl! Der Mullah hatte ihnen einen leichten Sieg und unzählbare Beute verheißen, aber - wie aus dem Boden wuchsen die Truppen der Königin, hieben und stachen, kamen angeritten im Sternenlicht, daß bald keiner mehr wußte, wohin sich wenden, und alle, wähnend, sie seien umzingelt von Armeen, in wilder Flucht zurückeilten in ihre Berge. In der Panik fielen so manche, aufgeschlitzt vom Messer der Afghanen, die von unten nach oben ihren Stoß führen, aber mehr noch unter dem Feuer der langen Karabiner. Da erhob sich der Schrei: »Verrat! Verrat!«; und als die Fliehenden die befestigten Höhen ihrer Berge erklommen hatten, fehlten vierzig Mann, die gefallen waren, und sechzig Verwundete. Aber auch der Glaube an den blinden Mullah war dahin! Man schrie, fluchte und stritt sich an den Lagerfeuern; die Weiber jammerten um ihre Söhne und Männer; und der Mullah heulte Flüche auf die Zurückgekehrten herab.
Da stand Khoda Dad Khan auf, beredt und ungebrochen, denn er hatte an der Schlacht nicht teilgenommen - er hielt den Augenblick für gekommen. Punkt für Punkt machte er dem Stamme klar, daß nur der Mullah die Schuld trug an all dem Unheil, daß er gelogen hatte in jeder Hinsicht und sie durch sein Geschwätz in eine Falle gelockt. Freilich sei es eine Beleidigung, daß ein Bengali, der Sohn eines Bengali, beauftragt worden, die Leitung des Grenzlandes zu übernehmen, aber es bedeute noch lange nicht, wie der Mullah fälschlich behauptet habe, den Anbruch einer Zeit der Willkür und Selbständigkeit. Auch habe der unerklärliche Wahnsinn der englischen Regierung ihre Macht nicht geschwächt. Im Gegenteil, der betrogene und vom Anschluß abgetrennte Stamm werde gerade jetzt, wo seine Scheunen leerstünden, mit Blockade gegenüber dem Handel mit Hindustan bestraft, bis Geiseln gestellt würden als Bürgschaft für künftiges Wohlverhalten – habe Schadenersatz zu leisten und Blutgeld zu zahlen - sechsunddreißig englische Pfund für jeden erschlagenen Dörfler! - »Und ihr könnt euch denken«, erklärte Khoda Dad Khan, »daß diese Hunde von Talbewohnern beschwören werden, wir hätten ihrer schockweise umgebracht. Wird der Mullah die Schulden begleichen, oder sollen wir unsere Gewehre verkaufen?« - Ein lautes Murren lief um die Lagerfeuer. – »Ihr seht also: es war des Mullahs Werk, und wir haben nichts dafür bekommen als Versprechungen des Paradieses. Es fehlt uns, ihr wißt, ein Heiligenschrein, um davor zu beten. Wir sind zu geschwächt, als daß wir, wie bisher, uns hinüberwagen könnten ins Gebiet der Madar Kheyl, um am Grabe Pir Sajjis zu knien und unsere Andacht zu verrichten. Die Madar Kheyl würden über uns herfallen - und mit Recht. Unser Mullah aber ist ein heiliger Mann. Er hat hundert Leuten unseres Stammes ins Paradies verhelfen diese Nacht. Soll er ihnen nachfolgen! Wir wollen einen Dom errichten über seinem Leichnam aus blauen Multan-Ziegeln und Lampen anzünden zu seinen Füßen jeden Freitag. Er soll ein Heiliger werden, wir haben unsern Schrein, und unsere Weiber werden davor beten um Nachkommenschaft, auf daß die Lücken sich wieder füllen in unseren Reihen. Wie denkt ihr darüber?«
Ein grimmiges Kichern folgte auf diesen Vorschlag, und das leise »Ft, ft«, wie die Dolche aus den Scheiden gezogen wurden, folgte dem Kichern. Es war eine treffliche Anregung gewesen und entsprach einem lange gehegten Herzensbedürfnis des Stammes. Der Mullah sprang auf und glotzte mit seinen verschrumpften Augäpfeln vergeblich umher nach dem drohenden, unsichtbaren Tod; rief den Fluch Gottes und Mohammeds herab auf den Stamm! Dann begann eine Art Blinde-Kuh-Spiel zwischen den Lagerfeuern. Khuruk Shah, der Barde des Stammes, hat es in unsterblichen Versen besungen.
Sie kitzelten ihn mit den Spitzen ihrer Messer in den Achselhöhlen: er sprang heulend zur Seite - nur, um gleich darauf eine kalte Klinge im Nacken zu fühlen oder eine Flintenmündung im Bart. Er rief seine Anhänger zu Hilfe, aber die meisten von ihnen lagen erschlagen unten in der Ebene; für die Abwesenheit gerade der Entschlossensten hatte Khoda Dad Khan schon von Anfang an gesorgt. Die Männer verhöhnten den Blinden mit Schilderungen, wie herrlich der Schrein sein würde, und die Kinder klatschten in die Hände und schrien: »Lauf, Mullah, lauf! Hinter dir steht einer!« Schließlich, als der Sport anfing, langweilig zu werden, jagte ihm Khoda Dad Khans Bruder ein Messer zwischen die Rippen. »So«, sagte Khoda Dad Khan mit entzückender Schlichtheit, »so, jetzt bin ich der Führer der Khusru Kheyl!« Niemand erhob Einwände, und alles legte sich schlafen.
Unten in der Ebene hielt Tommy Dodd einen Vortrag über die Schönheit einer Kavallerie-Attacke in der Nacht, und Tallantire keuchte nervenerschüttert dazu, im Sattel zusammengekrümmt, denn der an seinem Handgelenk baumelnde Säbel troff vom Blute der Khusru Kheyl, des Stammes, den Orde so gut im Zaum gehalten. Als ein Radschput-Soldat darauf hinwies, daß dem Schecken das rechte Ohr an der Wurzel glatt abgehauen war - offenbar infolge eines Säbelhiebes seines ungeschickten Reiters, da brach Tallantire völlig zusammen, und schluchzte und lachte nervös durcheinander, bis Tommy Dodd ihn flach auf den Boden legte und beruhigte.
»Wir müssen warten bis zum Morgen«, sagte er. »Ich habe dem Obersten telegraphiert, bevor wir ausrückten, er solle uns einen Flügel Beshaklis nachschicken. Er wird rasen, daß ich die Sache allein erledigt habe, aber: macht nichts, die Bergbanditen werden jetzt Ruhe geben.«
»Schick