Hans Christian Andersen - Gesammelte Werke. Hans Christian Andersen
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Читать онлайн книгу Hans Christian Andersen - Gesammelte Werke - Hans Christian Andersen страница 137
Da drinnen war eine Hitze, daß die Finnin fast nackt ging; sie war klein und schmutzig; gleich löste sie die Kleider der kleinen Gerda und zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, – denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, – legte dem Rennthiere ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfische geschrieben stand; sie las es drei Mal, da wußte sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel; denn er konnte ja gegessen werden, und sie verschwendete nie Etwas.
Nun erzählte das Rennthier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda; und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber nichts.
»Du bist sehr klug,« sagte das Rennthier; »ich weiß, Du kannst alle Winde der Welt mit einem Zwirnfaden zusammenbinden; wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht er scharf, und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, daß die Wälder umfallen. Willst Du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, daß sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?«
»Zwölf-Männer-Kraft?« sagte die Finnin. »Ja, das würde viel helfen!« Dann ging sie nach einem Bette, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf; da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunter lief.
Aber das Rennthier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voll Thränen an, daß sie abermals mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Rennthier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
»Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort Alles nach seinem Geschmacke und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt; aber das kommt daher, daß er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen erst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!«
»Aber kannst Du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, daß sie Gewalt über das Ganze erhält?«
»Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt; siehst Du nicht, wie groß die ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und Thiere ihr dienen müssen, wie sie mit nackten Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten; die besitzt sie in ihrem Herzen; die besteht darin, daß sie ein liebes unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin; dahin kannst Du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit rothen Beeren im Schnee steht; halte keinen Gevatterklatsch, sondern spute Dich, hierher zurückzukommen!« Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Rennthier, welches lief, was es konnte.
»O, ich habe meine Stiefel nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe nicht!« rief die kleine Gerda. Das merkte sie in der schneidenden Kälte; aber das Rennthier wagte nicht, anzuhalten; es lief, bis es zu dem Busche mit den rothen Beeren gelangte; da setzte es Gerda ab und küßte sie auf den Mund, und es liefen große, blanke Thränen über des Thieres Backen; und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand die arme Gerda, ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlichen, eiskalten Finnmarken.
Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte; da kam ein Regiment Schneeflocken; aber die fielen nicht vom Himmel herab, der war hell und glänzte von Nordlichtern; die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich noch, wie groß und künstlich die Schneeflocken damals ausgesehen hatten, als sie dieselben durch ein Brennglas betrachtete. Aber hier waren sie freilich noch größer und fürchterlicher; sie lebten; sie waren der Schneekönigin Vorposten, sie hatten die sonderbarsten Gestalten. Einige sahen aus wie häßliche, große Stachelschweine; andere wie Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten; noch andere wie kleine dicke Bären, auf denen das Haar sich sträubte; alle waren glänzend weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.
Da betete die kleine Gerda ihr Vater unser; die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Athem sehen konnte; er ging ihr wie Rauch aus dem Munde. Der Athem wurde dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten; und alle hatten Helme auf dem Kopfe und Spieße und Schilde in den Händen; ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gerda ihr Vater unser beendet hatte, war eine ganze Legion um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die gräulichen Schneeflocken, sodaß diese in hundert Stücke zersprangen; und die kleine Gerda ging sicher und frohen Muthes vorwärts. Die Engel streichelten ihre Hände und Füße, da empfand sie weniger wie kalt es war, und eilte nach der Schneekönigin Schloß.
Aber nun müssen wir doch erst sehen, was Kay macht. Er dachte freilich nicht an die kleine Gerda, am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schlosse stehe.
Siebente Geschichte. Von dem Schlosse der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug.
Des Schlosses Wände waren gebildet von treibendem Schnee, und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden; es waren über hundert Säle darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte; der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang; das starke Nordlicht beleuchtete sie alle, und wie groß und leer, wie eisig kalt und glänzend waren sie! Nie gab es hier Lustbarkeiten, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie ein kleiner Kaffeeklatsch von Weißen-Fuchs-Fräuleins; leer, groß und kalt war es in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, daß man zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorner See, der war in tausend Stücke zersprungen; aber jedes Stück war dem andern gleich, daß es ein vollkommenes Kunstwerk war; und mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war; dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes säße, und daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war blau vor Kälte, ja fast schwarz; aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer abgeküßt und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinander fügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay ging auch und legte Figuren, und zwar die künstlichsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit: das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren; aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er haben wollte, das Wort: Ewigkeit. Die Schneekönigin hatte gesagt: »Kannst Du diese Figur ausfindig machen, dann sollst Du Dein eigener Herr sein, und ich schenke Dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe«. Aber er konnte es nicht.
»Nun sause ich fort nach den warmen Ländern!« sagte die Schneekönigin. »Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!« – Das waren die feuerspeienden Berge Aetna und Vesuv, wie man sie nennt. »Ich werde sie ein wenig weiß machen! Das gehört dazu; das thut den Citronen und Weintrauben gut!« Und die Schneekönigin flog davon, und Kay saß allein in dem viele Meilen großen, leeren Eissaale, betrachtete die Eisstücke und dachte so,