Auf fremden Pfaden. Karl May
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»Ist dieser Boden gefährlich?« fragte ich ihn.
»Herr, wir gehen über Rutaimo, wo die bösen Geister wohnen. Jeder von ihnen hat sich eine Spalte gebohrt, die er mit Schnee bedeckt, um die Samelatjit zu betrügen. Tritt einer darauf, so stürzt er hinab in die Hölle, wenn nicht der Saiwaolmak seine Hand ausstreckt, um ihn festzuhalten. Zuweilen kommt auch ein heiliger Engel und zieht ihn wieder heraus.«
So vermischten sich in der Vorstellung des alten Lappländers christliche Bilder mit den heidnischen. Ihm war es schließlich sehr gleich, ob er von einem Engel oder einem Götzen Hilfe zu erwarten habe; vielleicht glaubte er, der eine sei so mächtig wie der andere.
Wir glitten also langsamer über das Plateau dahin und erreichten wirklich mehrere Spalten, über welche der Schnee eine zusammenhängende Kruste gebildet hatte, die zwar imstande war, den Hund, nicht aber einen Menschen zu tragen. Wir erkannten diese Stellen sowohl an der Formation als auch an der Farbe ihrer weichen Decke, über welche wir uns mittels unserer Spieße hinüberschwangen. Dann ging es abwärts. Hier mußten wir die Spieße fest einstemmen, um unsere vorsichtige Bewegungsart beibehalten zu können, da sich die Spalten zahlreicher zeigten als vorher; der Hund zerrte ganz gewaltig an der Leine, und bei einem unvermuteten Rucke gelang es ihm, dieselbe zu zerreißen. Er stürzte sich in weiten Sprüngen den Berg hinab, doch nicht weit, so blieb er halten, um ein lautes Geheul zu erheben.
»Dort ist es!« rief Onkel Sätte; »möchte es noch Zeit zur Hilfe sein!«
Wir bemühten uns, die kurze Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen, und standen bald vor einer engen, tief in den Boden gerissenen Kluft, durch deren Schneedecke ein Loch gebrochen war. Der Hund stand vor demselben und suchte es durch Scharren zu erweitern, hütete sich dabei aber doch vor der Gefahr, hinabzustürzen. Eine Ski-Spur führte von rechts zu der Stelle, aber nicht darüber hinaus.
Neete, der Sohn, legte sich platt nieder und rief hinab:
»Attje, totn lep tanne ... Vater, bist du hier?«
Keine Antwort erscholl, aber der Hund war ganz außer sich; er setzte wiederholt an, hinabzuspringen, wurde aber immer wieder von der Furcht zurückgehalten.
»Er ist unten«, sagte ich. »Lassen wir alles Fragen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Gebt die Stricke her; es muß einer hinab!«
»Ich gehe hinab,« antwortete Neete; »ich bin der leichteste. Härra, du bist der größte und stärkste von uns allen; du wirst die Kartsait halten!«
»Gut! bindet die Halkoit zusammen und legt sie quer über die Spalte, damit sie uns als Stütze dienen. Aber schnell!«
Nur eine Minute später schwebte der junge Mann in die Öffnung hinein, in welcher eine fürchterliche Kälte herrschen mußte. Er war noch gar nicht weit hinab, so gab er das Zeichen.
»Mon lep sot ... ich habe ihn,« rief er. »Gebt noch ein Seil herab!«
Diese Seile waren zwar dünn, aber aus unzerreißbaren Rentierhautriemen geflochten; man konnte ihnen den schwersten Menschen anvertrauen. Während ich den Sohn hielt, wurde ihm ein zweites Seil hinabgelassen, an welches er den Vater binden sollte. Dieses geschah in kurzer Zeit, und dann wurden beide heraufgezogen.
Vater Pent fiel steif auf den Schnee.
»Er ist tot!« jammerte Neete. »Die bösen Geister haben ihm das Leben geraubt!«
Ich untersuchte den alten Lappmann. Sein Herz schlug, und keines seiner Glieder schien verletzt zu sein. Darum tröstete ich die anderen:
»Sotn ela ... er lebt! Es fehlt ihm nichts als nur die Besinnung. Welche Stellung hatte er in der Spalte, Neete? Sie scheint nicht tief zu sein.«
»O, Härra, sie ist tief, sehr tief, und ganz mit Eis belegt,« antwortete er. »Aber sie ist schmal, und da hat sich sein Spieß eingeklemmt, der ihn gehalten hat.«
»Wekkes auto ... welch ein Wunder!«
»Ja, der heilige Jesots hat ihn bewacht. Aber sage, ob es möglich ist, daß er dennoch sterben kann?«
»Es ist möglich, daß er mit dem Kopfe an das Eis geschlagen ist. Er ist trotz der dichten Kleidung steif vor Kälte und muß sich also sehr lange in der Kluft befunden haben; das läßt mich wohl vermuten, daß er betäubt worden ist, denn von einer Ohnmacht wäre er längst wieder erwacht. Nehmt die Stangen und macht eine Bahre. Wir wollen ihn zur Hütte tragen! Einer mag voraneilen und den Rentierschlitten holen, damit wir schneller vorwärts kommen.«
»Ich werde es thun!« erbot sich der wackere Kakke Keira. »Ich werde so eilen, daß es mich nicht friert, und lasse euch meinen Pelz zurück, denn sonst könnt ihr keine richtige Trage machen.«
Er warf den weiten Pelz ab, ergriff seinen Spieß und sein Gewehr und glitt auf seinen Schneeschuhen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Mit Hilfe des Pelzes, der Stangen und der Seile wurde eine ganz passable Bahre zusammengesetzt; wir banden den Geretteten darauf fest und traten den Rückweg an. Dieser wurde uns natürlich schwer, denn es war keine Kleinigkeit, die Last wohlbehalten über die Spalten zu bringen. Dies nahm so viel Vorsicht und Zeit in Anspruch, daß der Schlitten bereits unten am Berge hielt, als wir die Ebene erreichten. Kakke Keira hatte sich einstweilen den Pelz Andas geborgt.
Der Besinnungslose wurde auf den Schlitten befestigt, und dann ging es im sausenden Laufe über die nun bequeme Fläche auf die Hütte zu. Natürlich kam der von dem windesschnellen Rentiere gezogene Schlitten mit Onkel Sätte, der ihn führte, eher an, als wir, und als wir die Schuhe abgelegt hatten und eintraten, fanden wir Vater Pent bereits am Feuer liegen. Er war noch immer besinnungslos; dennoch aber beschäftigte sich Mutter Snjära unter Assistenz ihrer Töchter sehr eifrig damit, ihm jammernd und wehklagend den gewaltsam aufgebrochenen Mund voll großer Stücke gefrorenen Rentierblutes zu stopfen.
»Wollt ihr ihn töten!« rief ich ihnen zu.
»Das Blut hilft für alles, Härra!« beteuerte sie mir.
»Hier schadet es nur! Nehmt es wieder heraus und öffnet ihm die Kleider. Ich habe eine bessere Medizin!«
Ich hatte in meinem sehr zusammengeschrumpften Reisesacke allerdings von Medikamenten weiter nichts als noch ein halbes Fläschchen Arnikatinktur, doch war dies gegen die Verletzung durch einen Fall ja ein ganz gutes Mittel, wenn nicht auch innere Teile gelitten hatten. Die Kleider wurden ihm geöffnet, um die Respiration zu erleichtern, und da Naphtha und Salmiakgeist oder ähnliches nicht vorhanden war, so bat ich um Schnupftabak. Alle erstaunten sehr weidlich darüber, daß ein Toter schnupfen solle, dennoch aber wurden mir gerade so viele aus Rentierhaut gefertigte Dosen entgegengestreckt, als männliche und weibliche Personen anwesend waren. Der Lappe liebt den Tabak außerordentlich, fast ebenso wie den Branntwein; aber da er den letzteren so viel entbehren muß, so raucht und schnupft er viel, und daher gab es hier Dosen genug in der Hütte.
Ich applizierte dem Betäubten eine ziemliche Prise in denjenigen Teil seines Gesichtes, welchen die Lappen Njuonne nennen, und hatte auch wirklich gar nicht lange auf die beabsichtigte Wirkung zu warten; seine spitze Stirn legte sich in Falten, die geschlossenen Augenlider begannen zu zittern, der Mund öffnete sich, zwar langsam, aber so weit wie möglich; die gegen Kälte und allerlei kleines Getier mit Pechsalbe beschmierten Wangen dehnten sich aus, und dann erfolgte jene bekannte Explosion, für welche die Sprachen aller Völker nur eine und dieselbe Bezeichnung haben – app ... zieh!
»Aeitnan