Die Stille im Dorf. Karl Blaser
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Es ist eine Weile her, dass sie dieses letzte Lebenszeichen von ihm erhalten haben.
Wenn Margarete eines hasst, dann ist es Fisch. Erst recht Hering. Pfui Teufel! Nicht nur, dass sie keinen Fisch essen mag: Sie kann Fisch nicht riechen. Schon der kleinste Luftzug, der den typischen Geruch weiterträgt, verursacht bei ihr auf der Stelle Brechreiz. Aber darauf scheint niemand da unten in der Küche Rücksicht zu nehmen. Ihr unüberwindlicher Ekel ist denen völlig egal. In den Keller soll sie hinabsteigen und vier übelriechende Heringe aus der immer noch halbvollen Tonne herausfischen. Einen für sie, einen für die Mutter, zwei für den Vater. Schon beim Gedanken, diese dicht verschlossene Holztonne zu öffnen, wird ihr auf der Stelle schlecht. Sofort würde der Gestank entweichen und sich im ganzen Haus festsetzen. Er kriecht überall hin, wie die Ratten. Noch Tage später ist er zu riechen. Sie weiß nicht, wie alt die Leichname sind, die in der Tonne lagern. Ihre Mutter hat die Ladung im letzten Herbst, oder war es der vorletzte oder der vorvorletzte, so genau kann Margarete sich nicht mehr erinnern, von einem fliegenden Händler gekauft und in einen Sud aus Wasser und Pökelsalz eingelegt. Salz konserviert. Damit kann man sogar Leichengeruch überdecken. Wieviel Salz es wohl braucht, um den Geruch der Kriegstoten zu überdecken, fragt sie sich.
Die Mutter hat das Fass luftdicht mit einem Gummiring zwischen Deckel und Gefäß verschlossen, wo die Fische in ihrem Salzgrab offenbar bis in alle Ewigkeit, Amen, haltbar sind. Bei Bedarf an Frei- oder Feiertagen landen sie stinkend auf dem Teller. Der Vater kann gar nicht genug davon kriegen, er allein isst mindestens zwei Heringe auf einen Streich, und da Margarete dankend verzichtet, würgt er anschließend, laut schmatzend, auch noch einen Dritten herunter. Übelriechend eingelegte Heringe gibt ihnen der Winter, frische Süßwasserforellen dagegen bringt der Sommer. Die Dorfburschen bringen sie heim, sie fangen die Forellen mit bloßen Händen aus dem kleinen Eschbach oder aus der etwas größeren Elz, die sich unweit vom Dorf durch die Täler schlängeln, bevor sich der Eschbach in die Elz und die Elz in die Mosel und die Mosel in den Rhein ergießen. Der Fischfang der Dorfjungen geschieht natürlich heimlich. Fischen und Jagen sind strengstens untersagt. Wer das Verbot missachtet, der muss »ins Dipo«, wie sie hier sagen; der landet im Gefängnis. Der Jagdpächter aus Düsseldorf namens Hugo Sander, ein reicher Industrieller, hat die Jagdrechte gepachtet, und ihm allein gehören alle wilden Tiere und die Fische. Er bedroht jeden Jungen mit Anzeige, aber bis jetzt hat es noch keinen erwischt. Gottlob taucht er nur gelegentlich hier auf, so wie früher der Kaiser aus Berlin. Die Hohe Eifel liegt weit vom Schuss. Kein Mensch interessiert sich dafür. Sander hat einen Aufseher eingesetzt: den alten Friedrich mit der Glatze, der am Dorfrand wohnt und ein Jagdgewehr trägt. Aber der lässt eine Fünf grade sein. Toni, sein Ältester, ist als Erster im Dorf gleich zu Kriegsbeginn gefallen. Friedrich verliert kein Wort darüber. Er zeigt keine Gefühle.
Im letzten Sommer, weil die Jungen alle im Krieg waren, ist Margarete allein losgezogen und hat versucht, Forellen zu fangen. Das war ein großer Reinfall. Und zu allem Übel hat Friedrich sie auch noch auf frischer Tat ertappt und ihr die Haarzöpfe langgezogen.
»Wenn ich dich noch einmal erwische, du dumme Göre, dann kommst du nicht mehr so glimpflich davon. Ich werd‘s deinen Eltern stecken«, hat er geschrien, und sie war weggelaufen.
Friedrich hatte den Vorgang aber nicht gemeldet.
Das wilde Getier der Eifel ist Sanders Eigentum, aber die Dorfjungen lassen sich davon nicht beeindrucken. Und wenn sie zurück sind aus dem Krieg, dann gehen sie sicher im Sommer wieder auf die Pirsch. Dann legen sie am Ufer des Eschbachs wieder ihre Mannesprobe ab. Sie suchen einen jungen Grünfrosch oder eine kleine Kröte, spießen sie auf einer Weidenrute durch Mund und After auf und braten sie über dem Lagerfeuer. Jeder Junge im Dorf, der Vierzehn geworden ist und die Schulzeit beendet hat, muss diese Kröte schlucken. Wer es nicht tut, der wird bis auf die Unterhose ausgezogen, bekommt den Arsch versohlt und muss, mehr oder weniger nackt, ins Dorf nach Hause laufen, und alle können dann sehen, dass er die Probe nicht bestanden hat und eine Memme ist. So einer hat es später schwer, ein Mädchen aus dem Dorf zu freien. Toni war einer davon, aber nun ist er ja gefallen. Der Grünfrosch, das muss noch gesagt werden, ist immer stark verschmort, sodass er mehr nach einem Stück Kohle als nach Fleisch schmeckt. Es ist also halb so schlimm. Margarete, die mehr mit den Jungs als mit ihren Altersgenossinnen gespielt hat, könnte eher einen verkohlten Grünfrosch als eine gebratene Forelle essen. Sie war das einzige Mädchen, das einmal bei dieser männlichen Mutprobe hatte dabei sein dürfen.
Margarete verschmäht nicht nur Fisch in aller Form. Sie hasst auch jede Art der Hausarbeit. Sie kann nicht kochen, und sie macht keinerlei Anstalten, es zu erlernen. Dabei hat ihre Mutter Anna nichts unversucht gelassen, ihr das Kochen und alle übrigen Dinge des Haushalts beizubringen, aber bis jetzt, bis zu ihrem Neunzehnten, sind diese Versuche mehr oder weniger erfolglos im Sande verlaufen. Und Johann kümmert sich nicht um die Erziehung der Tochter. Sie werde schon einen tapferen Mann finden, pflegt er zu antworten, wenn seine Frau Anna ihn darauf anspricht. Die Männer würden Schlange stehen, um seiner Tochter den Hof zu machen. Und in der Tat: Margarete ist eine gute Partie.
»Sie ist noch so jung. Wir werden schon den Passenden für sie auftreiben«, wiegelt ihr Vater stets ab, und er hat noch gar nicht bemerkt, dass der Passende längst um seinen Hof herumgeschlichen ist wie ein läufiger Kater: Niklas, der einzige Sohn von Anne-Kathrin. Aber nun ist auch er im Krieg. Anne-Kathrin, die früh Witwe geworden war, wartet sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn. Die Ungewissheit, ob er noch am Leben ist, zerrt an ihren Nerven. Warum meldet sich Niklas nicht? Er ist der Einzige, den sie hat. Ohne ihn ist sie nur schwer in der Lage, ihren kleinen Bauernhof zu führen, sie ist selbst nicht mehr die Jüngste, und die Arbeit eines Bauern hier oben ist für eine Frau allein viel zu beschwerlich. Im November hat Niklas Geburtstag. Dann wird er zwanzig. An runden Geburtstagen, so hatte Anne-Kathrin gehört, gibt es für Frontsoldaten Heimaturlaub. Bis November ist es aber noch eine Weile hin. Da kann noch allerhand passieren. Sieben Monate sind eine lange Zeit, vor allem in Russland.
Ein gutaussehender Bengel ist dieser Niklas. Mit seinem breiten Kreuz, dem blonden Lockenschopf und den kleinen, leuchtend blauen Augen, kann er Frauen leicht den Kopf verdrehen. Seine Wahl ist auf Margarete gefallen. Ausgerechnet auf Margarete, die keinen Fisch mag und nicht kochen kann. Aber Margarete kann so unbekümmert über alles lachen. Nichts nimmt sie wirklich ernst. Als könne ihr nichts passieren; wie eine Marionette, die sicher an ihren Seilen geführt wird, so grazil und selbstbewusst kommt sie daher, als sei das Leben eine Schauspielbude. Margarete ist anders als die anderen Mädchen im Dorf. Sie entspricht so gar nicht dem Bild einer Bauerntochter. Sie trägt immer ansehnliche Kleider, die ihr die Mutter näht. Ihr dickes langes Haar glänzt in der Sonne, wenn sie es doch einmal wagt, ohne Kopftuch zu erscheinen. Der Vater schimpft deshalb mit ihr.
»Ein deutsches Mädel trägt Zöpfe«, sagt er.
Aber Margarete will kein Mädel sein. Sie will auch nicht, dass man sie ‚Gretel‘ oder ‚Gretchen‘ nennt. Sie ist eine junge Frau. Das ist etwas Anderes. Die stehen nicht am Herd. Die werden auch nicht auf dem Feld oder im Stall gesehen. Aber Feldarbeit muss sie ohnehin nicht machen. Dafür hat ihr im Dorf inzwischen unbeliebter Vater, den sie hinter vorgehaltener Hand den ‚Hitlerjohann‘ nennen, seine ‚Polacken‘.
Bevor Niklas in den Krieg ziehen musste, hat er allen Mut zusammengenommen und Margarete in der Scheune seine Liebe gestanden:
»Willst du meine Frau sein, wenn ich vom Krieg zurück bin?«
Niklas sagte das, als sei er auf dem Weg zum Markttag; als müsse er nur ein paar Einkäufe im Städtchen erledigen und sei abends wieder daheim bei ihr.
»Ja! Ja, Niklas, ja! Ich warte hier auf dich!«
Niklas nahm sie in den Arm. Sie küssten sich, fielen hinterrücks ins Heu.
»Wir