Die Stille im Dorf. Karl Blaser
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Am liebsten würde Niklas alle rausschmeißen, in hohem Bogen. Am liebsten würde er mit der Faust auf den Tisch hauen und rufen: Haut ab, verpisst euch! Sauft euren billigen Fusel woanders! Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe! Geht doch nach Hause, Schweine füttern, Kühe melken und geduldig wie die Schafe hier oben am Nürburgring abwarten, bis der Spuk vorüber ist. Gern würde er in die Welt schreien, dass er Margarete liebt! Aber zuallererst muss er es der Mutter sagen. Er atmet tief durch. Verkrampft versucht er, mit allen zu scherzen, mit ihnen zu lachen, denn seinetwegen sind sie gekommen. Immer wieder sucht er Margaretes Blick. Sie sitzt eingequetscht neben ihrem Vater am anderen Tischende. So weit weg von ihm. Sie lächeln sich verstohlen an. Sie prosten sich zu. Den Abend lang. Wie hübsch Margarete ist! Niklas kann die Augen nicht von ihr lassen: Wann wird er ihre Lippen berühren? Wann haben sie sich ganz für sich allein?
Einen aufgesetzten Holunderlikör nach dem anderen kippt der Soldat sich hinter die Binde. In der Eifel gedeiht der ‚Sambucus nigra‘, der Schwarze Holunder, besonders üppig, er wächst mit seiner weißen Blütenpracht im Frühjahr und den dunkelrot leuchtenden Beeren im Spätsommer an jeder Scheunenmauer, in jedem Garten. Der Likör fließt süß durch Niklas’ Kehle, besänftigt seine Wut, dass er nicht mit Margarete allein sein kann, wo die Zeit doch kostbar ist, der Zeiger der Uhr sich so schnell dreht, dass ihm schwindelig wird; wo die Herzen der Verliebten pochen, dass es alle hören müssten: dumdediedum, dumdediedum, dumdediedum. Ein paar Tage nur, dann muss er wieder fort.
Die Gäste haben sich um den Küchentisch versammelt, besser gesagt, hier rekelt und fläzt sich die bäuerliche Gesellschaft, sie kann sich kaum noch auf den wackeligen Stühlen halten. Alles stammelt und lallt, rülpst, furzt und röhrt das ewige Lied vom schönen Westerwald, das auch hier in der armen Eifel gesungen wird, als sei die Zeit stehen geblieben; als wüssten nicht alle, dass in Deutschland längst andere Lieder gegrölt werden. Nicht über die kalte Eifel, nicht über den steinigen Hunsrück, nicht über den buckligen Westerwald: An der russischen Ostfront, da pfeift der Wind so kalt!
Eingezwängt zwischen den dampfenden Leibern hockt Niklas in der inzwischen wieder trockenen Gefreitenuniform, lächelt gequält, prostet brav den Gästen zu. Ihm dröhnt der Kopf. Die Mutter schleicht um ihn wie eine Katze um ihr einziges Junges.
Niklas wird zwanzig. Er liebt Margarete, die inzwischen auch einen roten Kopf bekommen und zu viel Holunderschnaps getrunken hat. Soll er sich bei so einer Feier über ein paar besoffene Bauerntölpel beklagen? Wer beschimpft da seine Gäste, auch wenn sie noch so falsche Lieder singen? Sollen sie doch ihren Spaß haben, sich herumlümmeln, die Gläser umstoßen, den Schnaps über Joppe und Kleid, über den Tisch und die roten Holzdielen kippen, die mit Ochsenblut poliert sind, dass sie selbst im schummrigen Licht noch glänzen.
»Trink einen Schnaps mit deinen Leuten, Niklas!«, fordert ihn die Mutter auf.
Kamerad Paul hätte bestimmt auch nicht gekniffen. Paul, den an seinem Achtzehnten, ganze zwei Wochen war es her, eine russische Granate zerfetzt hatte. Das Nachmittagslicht fiel in ihren Schützengraben, wo sie, eng nebeneinander gekauert, seit Stunden in der Kälte ausgeharrt hatten, als Pauls Leib in tausend Stücke zerbarst. Klein und hager war er gewesen, eher unscheinbar, das Gesicht rundlich, die Augen leuchtend, immer hellwach. Er beklagte sich nie, nicht einmal darüber, dass sie keine Handschuhe, keine Socken, keine Stiefel hatten, um diesem verdammten russischen Winter zu trotzen. Vielleicht ist es dem Alkohol geschuldet, dass Niklas immerzu an den schmächtigen Hamburger Kameraden Paul denken muss.
Die Erinnerung ist wie ein trübes Maar.
Paul hatte ihm am Morgen verraten, dass er an diesem Tag Geburtstag habe, aber nur Niklas sollte es wissen.
»Warum hast du keinen Urlaub beantragt, du Dummkopf?«
Paul schwieg. Er schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht«, antwortete er, »wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich verrückt bin. Aber ich weiß es wirklich nicht.«
Niklas zog einen Zigarettenstummel hervor, den er mit Daumen und Zeigefinger festhielt und mit einem Streichholz anzündete.
»Da, nimm!«
Niklas hielt dem Hamburger den glühenden Tabakrest vor die Nase, Paul nahm einen tiefen Lungenzug und begann zu hüsteln.
»Das ist alles, was ich dir zum Geburtstag schenken kann. Ein paar Züge von meiner Zigarette«, sagte Niklas.
Paul nickte nur. Er machte nie viele Worte, schweigsam war er, in sich gekehrt. Aber an diesem Morgen sprudelten die Sätze aus ihm heraus wie das Wasser aus den Eifler Dorfbrunnen. Er plauderte von Hamburg, von seiner Familie, seinen Eltern, die erst spät geheiratet hatten und schon alt waren, er erzählte von seiner jüngeren Schwester, die von Geburt an leicht gehbehindert und deshalb nicht im BDM aufgenommen worden war. Sie besäßen einen Krämerladen, der liege mitten in der Stadt. Sogar Senatoren zählten zu ihren Kunden, die halbe Bürgerschaft kaufe bei ihnen ein. Es gebe nichts, das nicht aufzutreiben sei. Paul behauptete, er könne alles besorgen.
»Haben wir nicht, gibt’s nicht«, sagte er. »Sobald meine Schwester verheiratet ist, werde ich das Geschäft übernehmen.«
Selbst hier, in der russischen Hölle, schmiedete Paul noch Pläne. Niklas hörte ihm andächtig zu.
Auch der Krieg war für Paul eine Art Handel, er stellte ihn nicht infrage.
»Was man nicht ändern kann, muss man ertragen«, sagte er, als sei es ausgemacht, dass er seine Heimatstadt, die Alster, seine Eltern und seine Schwester wiedersehen und den elterlichen Laden übernehmen werde.
Paul dachte nicht an die Hölle, nicht an den Tod. Vor ihm lagen Hamburg, der Hafen, das weite Meer. Er konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass man auch an Land, in Schlamm und Schnee, absaufen kann wie auf einem Schiff. Warum er bei der Infanterie und nicht bei der Marine gelandet war, wusste er selbst nicht. Anders als der lange Niklas war er ja klein und hätte locker in ein U-Boot gepasst. Hier hockten sie: der Junge aus der Stadt und der Junge vom Land, so verschieden. Zwei deutsche Welten, die sich in Russland begegnet waren, saßen nebeneinander im Schützengraben und zogen an Niklas‘ Zigarettenstummel, der ihren Hunger unterdrückte.
»Die Einschläge kommen näher«, sagte Paul. »Bald geht’s wieder los.«
*
Niklas schaut aus dem Fenster. Er weiß, dass Paul nicht kommen wird. Am Tisch geht es inzwischen drunter und drüber. Margarete ist näher an ihren Verlobten herangerückt. Sie prostet ihm zu. Die Gesichter der Bauern sind blau und rot angelaufen, schweißglänzend, zerfurcht. Sie sind wie aus Baumwurzeln geschnitzt. Die Dörfler kippen sich den Schnaps in ihre rohen Kehlen, einen nach dem anderen, immer hinein damit. Michel spielt auf der Ziehharmonika. Er gehört zu den armen Bauern im Dorf, sein Feld liegt an einem abseits gelegenen Nordhang, wo keine Sonne hin scheint und die Disteln höher wachsen als der Hafer, der dem kleinen Mann gerade mal bis an die Waden reicht. Im Stall stehen eine magere Kuh und eine Ziege, die weniger meckert als Ilse, seine Frau. Sie schämt sich, wenn Michel nach dem Spiel seinen verschwitzten Hut rundgehen lässt und um ein Almosen bittet.
»Heil, Gross!«, ruft Michel. Er prostet Hitlers Ortsbauernführer zu.
»Auf Niklas! Prost«, antwortet Johann. »Auf unsere jungen Helden! Heilige Flamme glühe und erlösche nie fürs Vaterland!«
Anne-Kathrin steht am Ofen, füllt den süßen Holunderschnaps weiter in die Becher, stellt eine neue Flasche auf den Tisch und schaut argwöhnisch auf Margarete, die sich allzu eng an Niklas anschmiegt,