Die Stille im Dorf. Karl Blaser
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Im Dorf halten sie zusammen, im Dorf ist niemand allein, im Dorf arbeiten die Männer auf dem Feld, die Frauen durchstreifen im Herbst alle zusammen den Wald: Müßiggang ist Teufelsgang, predigt der Pfarrer in der Kirch. Die Weiber sammeln also Holunderbeeren. Der Eifelwald ist im Herbst voll davon. Er leuchtet im faden Sonnenlicht dunkelrotblau. Zu Hause angekommen, leeren sie ihre Eimer und Weidenkörbe, und sie setzen ihren Schnaps für den Winter auf. Jedes Haus hat seinen Anteil an Flaschen, keine der Frauen geht leer aus, keine hat mehr oder weniger Pullen als die andere auf den Fensterbänken stehen.
Niklas sitzt mit eingezogenen Schultern zwischen all den Bauern, Mägden und Tagelöhnern, dem Müller und seiner Frau, der unglücklichen Anna, die eines Tages, was ein großer Fehler war, ihren Mann Johann aus der Stadt mit hier aufs Dorf gebracht hatte, verliebt bis über beide Ohren in diesen Schurken. Johann ist als Erster in Hitlers Partei eingetreten. Er begrüßt die Kühe im Stall mit ‚Heil Hitler‘. Seine Wahrheit dröhnt aus dem neuen Volksempfänger ‚VE 301‘, den der Propagandaminister baugleich hat produzieren lassen; dessen Typenbezeichnung auf den dreißigsten Januar verweist, den Tag der Machtübernahme der braunen Heilsclique. Hinter Johanns Rücken nennen sie den klumpfüßigen Goebbels ‚et Jüppje‘ oder ‚Humpelstilzchen‘. Johann Gross ist die Stütze des Reichsnährstands im Dorf, seine Ehre ist unantastbar. Der Erbhofbauer ist so etwas wie Hitlers Vertreter, er geht mit Hakenkreuzbinde durch Dorf, Stall und Scheune, und er stolziert mit braunen Scheuklappen durch die Welt. Es werde nicht mehr lange dauern, dann würden die Deutschen das Protektorat über die Vereinigten Staaten von Nordamerika übernehmen, die Freiheitsstatue würde zum alten Eisen geworfen und Amerika in einen blühenden Garten verwandelt, posaunt er herum. Natürlich hat er eine gute deutsche Frau, Anna, die das dunkelblonde Haar nicht offen trägt wie ein Luder, natürlich ist er verheiratet mit Blut und Boden. Zucht und Lebensquell sind sein geistig‘ Brot, das tägliche Brot des neugeborenen deutschen Volks. Wenn Johann am Tisch sitzt, muss man aufpassen, was man sagt, zumindest so lange er nüchtern ist. Johann liebt die Frauen, und er liebt Hochprozentiges, von beiden kann er nicht genug kriegen.
Wie Öl schmiert der dunkelrote Schnaps die heiseren Schlünde. Eine Flasche nach der anderen wird geköpft. Niklas schaut hinaus. Es hat geschneit. Durch das kleine Küchenfenster fällt Licht auf den Hof. Die Töne des Akkordeons wirbeln durch die Küche. Wenn sie doch nur abhauten!
»Wisst ihr, wa-warum et Jüppje so eine gr-gr-große Klappe bekommen hat?«, fragt Edmund Pommerich über den Tisch.
Edmund wohnt gleich gegenüber. Er ist schüchtern und stottert und zuckt.
»Mit einem gro-o-oßen Schwanz hä-hä-hätte er nichts anfangen können«, beantwortet er die Frage selbst, mit dem linken Auge zwinkernd. Ein schmuddeliges Tuch verdeckt das rechte, das er bei einem Unfall auf dem Feld verloren hat, mit einem Hautfetzen ist es zugenäht worden. Ein Glasauge, so einen Luxus, kann sich hier niemand leisten. Sonntags trägt Edmund aber eine feine Augenklappe. Die Haare zerzaust, sieht er dann aus wie ein Pirat, der sich aufs Land verlaufen hat.
»Das muss ich melden«, stammelt Gross.
»Wisst ihr, wie wir in den Schützengräben singen?«, fragt Niklas in die Runde.
Von Michel hat er das Akkordeonspielen gelernt. Er greift nach dem Quetschbeutel, schiebt sich die Riemen über die Schultern und setzt das Instrument auf seinen Schoß. Niklas beginnt zu spielen und singt:
»Unter der Laterne, vor dem großen Haus,
sitze ich am Abend und suche eine Laus:
Die mich den ganzen Tag gequält
und mir vom Russendreck erzählt.
Und das ist nicht so schön,
das glaubt Lili Marlön.
Unter meinem Hemde, wohl auf des Bauches Rund,
grabbeln Partisanen, und das ist nicht gesund.
Und sollt ich solch ein Tierlein sehn,
so wird ihm gleich ein Leid geschehn.
Sein End’, das ist ein Knall,
so geht’s den Läusen all.
Und die Landser beten überall zugleich:
Herr im Himmel droben, schick uns heim ins Reich!«
»Bravo!«, ruft Margarete.
Alle klatschen in die Hände.
Niklas gibt Michel das Akkordeon zurück. Der Bauer spielt noch einmal das Lied vom schönen Westerwald, während der Frontsoldat seiner heimlichen Braut einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückt. Die Mutter dreht ihnen gerade den Rücken zu, niemand nimmt es zur Kenntnis: Der viele Schnaps vernebelt Blick und Verstand.
»Ich weiß, dass es keinen Sinn mehr hat, wenn du zurück an die Front gehst«, flüstert der alte Jockem Niklas zu.
In der Scheune habe er ein Radio versteckt, erzählt er ihm mit gedämpfter Stimme. Abends, in der hintersten Ecke, höre er den Engländer ab. Tonnenweise würde es Bomben auf die deutschen Städte regnen.
»Die Amerikaner haben Aachen erobert und Heinsberg, Jülich, Euskirchen und Düren schwer bombardiert«, sagt er leise.
Warschau sei zerstört, und die Rote Armee habe bereits Belgrad eingenommen. Die Front sei zusammengebrochen. Die Russen hätten die Weichsel überquert, die Wehrmacht habe dem Ansturm nur wenig entgegenzusetzen, die Menschen aus den Ostgebieten seien auf der Flucht.
»Wer weiß, wie lange die sich da hinten noch über die Ostsee retten können. Bald werden wir die Rechnung zahlen«, tuschelt Jockem. »Dann kriegt auch Johann sein Fett ab!«
»Unkraut vergeht nicht«, entgegnet Niklas und wiegelt ab. Johann ist schließlich sein zukünftiger Schwiegervater. »Wer weiß das besser als wir Bauern! Wollt ihr, dass der Iwan auf unseren Feldern das Regiment übernimmt? Wir müssen uns auf unsere erfahrenen Heeresführer verlassen, uns kleinen Leuten bleibt gar keine andere Wahl.«
»Erfahrene Führer? Dass ich nicht lache!« Jockem hüstelt spöttisch. »Der Herr Reichsmarschall Göring hat in Karinhall gesessen und seinen Wanst gemästet, statt die Luftwaffe auf der Höhe zu halten. Der ist schuld, dass alles in Schutt und Asche liegt, der ganz allein. Der Krieg ist verloren, die Ostfront längst zusammengebrochen, hörst du, Niklas?«
»Wart‘s nur ab, bis der Frühling kommt, Jockem, dann marschieren wir wieder vorwärts. Du wirst sehen: Das Blatt wird sich noch mal wenden.«
»Hör auf, dir was vorzumachen, Junge! Rumänien hat im August mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und Deutschland den Krieg erklärt. Paris ist bereits an die Alliierten übergeben. Die Amerikaner haben nordwestlich von Trier die Reichsgrenze überschritten. Das Spiel ist aus«, raunt Jockem leise.
»Das