Die Stille im Dorf. Karl Blaser

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Die Stille im Dorf - Karl Blaser Eifel-Saga

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jetzt! Geh, und kümmere dich wenigstens heute mal um den Hof. Lass nicht immer andere deine Arbeit tun«, antwortet seine Frau.

       Johann wirft seinem Weib einen missmutigen Blick zu. Irgendetwas muss im Hochamt vorgefallen sein. Vielleicht ist die Osterpredigt des Pfarrers, den Johann unter Beobachtung hat, nicht nach dem Geschmack des Ortsbauernführers ausgefallen. Vielleicht läuft es an der Front nicht rund, wer weiß, denkt Anna.

      »Sag mir Bescheid, wenn Margarete wieder zu sich kommt«, sagt er.

      »Mach ich.«

       Johann verlässt das Schlafzimmer und steigt die Treppenstufen hinab.

       Im Haus ist es still. Erst gegen Abend trifft endlich der Landarzt ein: Doktor Prinz. Er wirkt müde und abgekämpft, und er hat Hunger. Seine tiefliegenden Augen sind mit schwarzen Rändern unterlegt, die Wangen eingefallen. Er ist von eher kleiner, zierlicher Gestalt. Das Gesicht trägt jungenhafte, fast weibliche Züge, und sein Alter ist schwer zu schätzen. Die Menschen wissen nicht viel über ihn, nur, dass er nicht verheiratet ist. Was ihn hierher in diese Gegend verschlagen hat, kann niemand sagen. Jedenfalls kommt er nicht von hier. Sein Hochdeutsch hat irgendeinen regionalen Einschlag, aber Anna, die nie über die Eifel hinausgeschaut hat, kennt sich mit Mundarten nicht sonderlich aus. Bayerisch ist es jedenfalls nicht, es ist auch kein schwäbischer Akzent. In dem Haus, in dem der Doktor lebt, hat zuvor ein Jude gewohnt. Immerhin hat dieser Prinz als Arzt einen guten Ruf.

      »Möchten Sie eine Tasse heiße Kuhmilch? Die kommt frisch aus dem Euter.«

      »Sehr gerne«, antwortet der Doktor. Er berichtet, dass im Ruhrgebiet, wo seine Mutter lebe, nur noch wenige Züge führen, da die Gleise bombardiert würden. Die intakten Bahnen stünden unter dem Beschuss britischer Tiefflieger.

      »Ich habe Angst, dass meiner Mutter etwas passiert ist. Ich habe seit zwei Wochen nichts mehr von ihr gehört«, erzählt der Arzt.

       Hier in der Eifel sei es dagegen friedlich wie im Garten Eden. Anna stutzt etwas. Vielleicht ist der Ruhrpott ja seine Heimat, denkt sie.

      »Nun ja«, antwortet Anna, »wie man‘s nimmt. Sehen Sie sich nur meine Tochter an. Sie ist aus dem Fenster gestürzt. Ich mache mir große Sorgen um sie.«

       Der Arzt nimmt einen großen Schluck aus der Tasse mit der heißen Milch, dann greift er nach seiner Ledertasche.

      »Wo ist die Patientin?«

      »Oben im Schlafzimmer.«

       Anna geht voraus, der Arzt trabt ihr hinterher, die engen Stiegen hoch in den ersten Stock zu Margarete. Sie schwitzt und faselt im Wahn. Es sind unverständliche Wortfetzen, die sie hervorbringt.

      »Ihre Tochter hat Fieber«, erklärt der Arzt. Er beginnt, sie abzutasten, klopft auf Brust und Bauch, zieht an den Armen, tastet die Füße ab nach Reflexen. Margarete öffnet einen Spalt weit die Augen. Ihr Gesicht glüht. Ihre Lippen bewegen sich, als wolle sie etwas sagen.

      »Sie hat eine Gehirnerschütterung!« Doktor Prinz ordnet kalte Wadenwickel an. »Die senken das Fieber. Wie ist das passiert?«

       Anna schüttelt nur unwissend mit dem Kopf. Es habe einen Knall und einen Schrei gegeben. Erst ein Knall, dann der Schrei. Man sei nach hinten gelaufen, habe die Tochter, am Boden liegend, sich krümmend vor Schmerzen, auf der Streuobstwiese unter dem Apfelbaum vorgefunden.

      »Ruhe, Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe«, verordnet der Arzt. »Eigentlich müsste sie ins Krankenhaus zur Beobachtung, aber das ist zwecklos. Der Transport schadet ihr mehr, als dass er nützt. Sie muss viel trinken!«

      »Ja«, antwortet Anna. »Ich achte darauf.«

      Der Arzt klappt seinen Koffer zu. Er fühlt noch einmal Margaretes Puls.

      »Schimpfen Sie nicht mit ihr, wenn sie wieder zu sich kommt. Aufregung ist Gift. Sie behält sonst ihr Leben lang Kopfschmerzen.«

      »Das fehlte noch. Das kann hier keiner gebrauchen.«

       Anna hat ihm ein Paket mit Lebensmitteln zurechtgelegt, das sie ihm in die Hand drückt: selbstgemachte Butter, ein Brot, Kartoffeln, rote Beete, ein Stück Schinken.

      »Sie könnten mir einen Gefallen tun«, sagt der Arzt. »Haben Sie ein rohes Ei für mich?«

      »Aber sicher! Gerne!«

       Anna eilt in die Vorratskammer. Sie kommt mit einem braunen, rohen Ei zurück.

      »Es ist frisch von heute.«

       Sie hält ihm das Hühnerei vor die Nase.

      »Eine dünne Stopfnadel, bitte!«

       Anna wühlt in der Schublade. Sie reicht ihm eine Nadel. Der Arzt pikst die Ober- und die Unterseite des Eis mit einer Nadel durch, dann setzt er es auf den Mund und saugt es vor Annas staunenden Augen leer.

      »Köstlich«, sagt er und seufzt. »Ich habe schon nachts von rohen Eiern geträumt. »Einfach köstlich!«

       Anna hat dem Arzt zugeschaut, wie er genüsslich das Ei ausgeschlürft hat. Sie schüttelt den Kopf. Wie kann einer nur von einem rohen Ei schwärmen? Niemand hier in den Weiten der Eifel käme auf so eine Idee.

      »Wie gesagt: Viel Ruhe, keine Aufregung und deshalb keine Schuldzuweisungen an ihre Tochter. Das würde sie nur aufregen.«

      »Viel Glück für Ihre Frau Mutter«, ruft Anna ihm zu, als er sich mit dem prallgefüllten Proviantbeutel im Hof auf sein klappriges Fahrrad schwingt und davonradelt.

       Der Tag ist trübe. An der Hohen Acht hat es in der Nacht sogar Frost gegeben. Die Wiesen sind mit weißem Raureif überzogen, wie eine Zuckerglasur. Anna schließt die Fensterläden, befeuert die Öfen. Sie muss an Doktor Prinz denken und setzt sich wieder neben die Tochter ans Bett. Margarete atmet ruhig. Sie schläft. Draußen ist es wieder kälter geworden. Der Winter will in diesem Jahr einfach nicht weichen.

       Der Krieg schon eher.

      Aber noch sind längst nicht alle Toten gezählt.

      2

       November 1944

      An einem trüben Novembermorgen 1944 erreicht Niklas endlich den Steinbüchel. Von dem kleinen, mit Ginster und kargen Fichtenbäumen bestandenen Hügel schaut er hinab auf das schlafende Dorf. Es ist kalt. Niklas wirft den schweren Tornister ab und rammt ihn in die Erde. Dann setzt er sich darauf, zieht einen sorgfältig in Silberpapier verpackten Zigarettenstummel aus der Tasche der durchnässten Uniform, zündet ihn an. Hier sitzt er und raucht und schaut auf die Häuser wie auf ein Gemälde, das in einem Pariser Museum hängt. Tagelang hat er schweigend, dicht an dicht mit seinen verletzten Kameraden, in einem verlausten Waggon gehockt. Weg, nur weg von der Ostfront, wo sich eine Tragödie abspielt und die Russen unaufhaltsam nach Westen vorrücken.

       In Koblenz, von wo aus der Zug rheinabwärts Richtung Bonn weiterfuhr, ist Niklas aus dem Abteil gesprungen, mit seinem schweren Gepäck ist er die Moselweinberge hinaufgeklettert und landeinwärts über die Hügel geflohen. Eine Woche ist es her, dass der Hauptmann ihn zu sich in den Unterstand rufen ließ.

      »Heimaturlaub, Soldat!«

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