Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel. M.E. Lee Jonas
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Florence seufzt und überlegt einen Augenblick. Die Aufgabe des Sonnentrichterorakels ist, J.J. diesen Ort zu erklären. In die ungeklärten Familienangelegenheiten darf es sich jedoch nicht einmischen.
»Du hast den Stein berührt, als deine Großmutter ihn dir überreicht hat. In dem Moment wurden all deine Erinnerungen gespeichert. Mittlerweile sind es die der letzten dreizehn Jahre und elf Monate. Nur Mut! Er kann dir alle wichtigen Fragen beantworten. Es sind nur deine Erinnerungen!«
J.J. atmet tief durch und setzt den Stein mit einem Ruck auf die Marmorsäule. Als er auf dem Ring sitzt, schießt ein zartes Licht empor, aus dem kleine, funkelnde Sterne tanzen. Daraufhin ertönt ein tiefer, vibrierender Summton, so als würde man leicht an einer Gitarrensaite zupfen. Der Ton breitet sich in großen Wellen aus und dringt tief in J.J. ein. Sie geht einen Schritt zurück und dreht sich verunsichert zu Florence.
»Wenn du bereit bist, kannst du dir jetzt deine Erinnerung zurückholen«, spricht das Sonnentrichterorakel ruhig.
J.J. wartet einen Moment, aber es passiert nichts.
»Und was jetzt?«, fragt sie schnippisch.
Florence seufzt.
»Ach ja, richtig. Vergessenszauber heißt, alles zu vergessen! Auch wie das Lythargium funktioniert. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest. Zum Beispiel deinen ersten Geburtstag. Dann entscheidest du, wie du diesen Rückblick wahrnehmen willst. Möchtest du sie nur sehen, stell dir eine Kinoleinwand vor oder einen dieser modernen Fernsehapparate. Du kannst deine Erlebnisse so zurückrufen, wie du es möchtest. Du kannst dich auch direkt in eine Erinnerung schleusen und dich mitten in dem Szenario bewegen. Aber davon würde ich dir im Moment noch abraten! Deine Erinnerungen sind noch nicht vollständig und du könntest dich in solch einer Szene verirren. Das ist dir leider schon einmal vor acht Jahren passiert. Fang lieber langsam an. Na los! Probiere es aus!«
J.J. schließt die Augen und seufzt.
»Das hört sich alles ganz schön gruselig an. Okay, ich muss jetzt einfach nur die Nerven behalten! Vielleicht ist es ja doch nur ein Traum.«
Sie atmet tief durch und sagt dann ganz schnell:
»Zeig mir meinen ersten Geburtstag auf einer riesigen Kinoleinwand!«
Etwas Besseres fällt ihr in diesem Moment nicht ein.
Da erscheint dort, wo gerade noch die Himbeerhecken standen, eine gigantische Kinoleinwand, die von zwei schweren, roten Samtvorhängen eingesäumt wird. So wie die in den richtigen Kinos. Vor Schreck tritt sie einen Schritt zurück und sieht sich ängstlich um. Florence und die Bäume sind noch da, aber die Blütenschaukel hat sich in einen mondänen Kinosessel verwandelt. Sie zögert einen Moment und setzt sich vorsichtig in den Sitz, der erstaunlich bequem ist, sodass sie sofort entspannt. Erwartungsvoll wartet sie, was nun passiert.
Als der Garten sich verdunkelt, atmet sie tief durch und starrt gespannt auf die Projektionsfläche. Eine leise Klaviermusik ertönt und sie kann den Geruch von frischem Popcorn wahrnehmen. Da erhellt sich endlich die Leinwand. Vor Aufregung rutscht J.J. tiefer in den Sitz. Sie überlegt, ob sie nicht doch lieber weglaufen soll, da sie vor dem, was sie jetzt sehen wird, auch Angst hat.
Da erscheinen die ersten Bilder und ziehen sie augenblicklich in ihren Bann. Am Anfang bilden tanzende Buchstaben den Satz »Josie Jezabel Smiths erster Geburtstag!«
Als sie verblassen, geht der Film los:
Ein kleines, fröhliches, blond gelocktes Mädchen mit einer glitzernden Krone auf dem Kopf steht vor einer mehrstöckigen Geburtstagstorte. Es ist aufgeregt und klatscht unentwegt in seine Händchen. Es winkt in die Kamera und zeigt wie in einem Werbespot auf die gigantische Geburtstagstorte, auf der winzige Ballerinas um Schlösser aus bunter Sahnecreme tanzen. Fanfarenbläser stehen auf der Spitze und feuern in regelmäßigen Abständen knallbunte Bonbons aus Kanonen ab. Das Mädchen springt aufgeregt herum und versucht sie alle aufzufangen.
J.J. kann sich nicht wirklich daran erinnern. Aber diese Aufregung kommt ihr sehr vertraut vor.
Plötzlich dreht sich das kleine Mädchen um und starrt J.J. direkt in die Augen, so als könne sie sie sehen. Eine Stimme, die J.J. vertraut scheint, lenkt das Mädchen im Film ab.
»So, kleine Prinzessin. Schau mal hierher!«
Das kleine Mädchen macht einen Luftsprung und jauchzt. Die Kamera schwenkt mit und zeigt eine Reihe erwachsener Personen. J.J. lehnt sich nach vorn, da sie ihren Augen nicht traut. Zwischen den Menschen tummeln sich sehr seltsame Wesen. Und da kommt eine junge, blonde Frau ins Bild und nimmt das Geburtstagskind auf den Arm. Sie stellt sich vor die Runde und herzt das Geburtstagskind, das gerade einem gruseligen Wesen einen Luftkuss zuwirft.
»Das ist meine Mama«, flüstert J.J. traurig.
Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann geht lächelnd auf die beiden zu und stellt sich neben sie. Dann singen Alle ein fröhliches Geburtstagsständchen.
J.J. sieht sich die Runde an und bemerkt, dass sie plötzlich die meisten Menschen und Wesen wiedererkennt. Ihre Erinnerungen erwachen und kehren behutsam zurück, so wie aus einem langen, tiefen Schlaf. Trotzdem hat J.J. Mühe, die Gefühle, die diese Erinnerungen mit sich bringen, zu kontrollieren.
»Da sind Papa und Großmutter Vettel! Und da ist Flick«, ruft sie aufgewühlt und setzt sich noch ein Stück weiter nach vorn, um die Gäste besser erkennen zu können. Alles in ihrem Körper vibriert.
Vor Aufregung bläht sich ihr Magen weit auf, während ihr Puls wie wild rast. Nun beginnen Erinnerungsfetzen, wie Fotografien, vor ihrem geistigen Auge aufzublitzen. Zusammenhanglose Stimmfetzen, Gerüche, Bilder und ein Wirrwarr tiefer, unbekannter Gefühle durchdringen sie und verursachen ein innerliches Chaos. Das ist zu viel für J.J. und um sie herum beginnt sich plötzlich alles zu drehen.
Sie hält sich die Augen zu, da ihr furchtbar zumute ist.
»Aufhören!«
Sie versucht den Brechreiz zu unterdrücken.
In diesem Moment ist der Film vorbei.
J.J. sitzt vornübergebeugt auf der Schaukel und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Mir ist furchtbar schlecht«, flüstert sie.
Das Sonnentrichterorakel räuspert sich verlegen.
»Ich sagte ja, dass es besser ist, langsam anzufangen. Brauchst du ein Glas Wasser?«
Sie schüttelt den Kopf und steht vorsichtig auf, da sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.
»Florence, ich kann mich wirklich an manche Dinge erinnern!«
Sie hält inne und beginnt zu schluchzen. Der Baum, hinter der Schaukel, neigt schützend einen Zweig über sie und streicht ihr sanft über den Rücken.
»Ich kann mich wieder erinnern! Meine Mama und mein Papa. Da war dieser Unfall kurz nach diesem Geburtstag. Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mich unter dem Sitz verstecken solle. Sie sagten, es sei ein Spiel. Es gab einen lauten Knall und meine Mama hat furchtbar geschrien. Ich habe mir die Ohren zugehalten und dann wurde es dunkel. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich bei Großmutter. Sie sind dabei gestorben, stimmts? Es war kein Spiel. Sie sind geflohen! Sie wollten mich