Sehnsucht. Heidi Oehlmann
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Dann entdecke ich endlich an der Kreuzung ein winziges Schild. Darauf ist eine KFZ-Werkstatt ausgeschildert, die nur achthundert Meter entfernt liegt. Ich setze den Blinker nach rechts, um der Beschilderung zu folgen. Im ersten Moment bin ich ratlos, wo sich die Reparaturwerkstatt befinden soll. Doch dann sehe ich ein weiteres Schild, auf dem der Pfeil nach links zeigt. Ich komme der Anweisung nach und atme auf, als ich die Werkstatt entdecke.
»Puh, das ist noch mal gut gegangen!«, sage ich erleichtert.
Langsam fahre ich auf den Hof, parke vor einer Halle und steige aus. Die Tore sind verschlossen. Meine Augen suchen nach einer Eingangstür, aber ich kann keine sehen. Aufgewühlt laufe ich um das Gebäude herum und atme auf, als ich an der Seite eine Tür entdecke. Ich bewege mich auf sie zu, klopfe an und gehe hinein. Statt empfangen zu werden, stehe ich mutterseelenallein in einem riesigen Raum. Mir fällt der Empfangstresen ins Auge. Er ist unbesetzt. Dennoch gehe ich darauf zu.
»Hallo, ist hier jemand?«, rufe ich.
Es herrscht Stille. Ich komme mir verloren vor. Wenn ich nicht dringend einen Mechaniker bräuchte, der sich meinen Wagen anschaut, würde ich jetzt verschwinden. In dieser Situation ist mir das Risiko zu groß. Solange ich keine Ahnung habe, was kaputt ist, möchte ich ungern weiter fahren. Nachher wird es noch schlimmer und unnötig teuer.
»Hallo? Hallo?«, versuche ich es erneut.
Wieder bekomme ich keine Antwort. Ich laufe in der Halle auf und ab, bis ich eine Sitzecke entdecke. Versteckt in der rechten Ecke hinter einer Kunstpalme befindet sich ein Wartebereich, bestehend aus einem schwarzen Ledersofa, zwei Sesseln in der gleichen Farbe und einem kleinen dunkelbraunen Holztisch. Ich gehe darauf zu und nehme auf einem der Sessel Platz. Nun fällt mir der Kaffeeautomat auf, der gegenübersteht. Bei dem Anblick bekomme ich wahnsinnige Lust auf das Heißgetränk. Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Tasche, wühle darin nach Kleingeld und gehe auf den Automaten zu. Ich werfe zwei Münzen in die Maschine und schaue dabei zu, wie sie sich in Bewegung setzt, einen Plastikbecher auswirft, der sich langsam mit der schwarzen Flüssigkeit füllt. Mir steigt der Kaffeeduft in die Nase und steigert meinen Appetit. Nachdem der Becher gefüllt ist und kein Kaffee mehr aus der Maschine läuft, greife ich ihn und gehe zurück zur Sitzecke. Dort setze ich mich, in der Hoffnung, es würde in Kürze jemand auftauchen. Allzu lange will ich hier nicht bleiben. Immerhin wartet Marie auf mich. Wie gern wäre ich jetzt bei ihr, aber mit dem quietschenden Auto möchte ich keinen Meter mehr fahren. Wenn ich es so überhaupt bis zu meiner Cousine schaffe. Mein Auto hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Da würde es mich kaum wundern, wenn es endgültig die Hufe hochreißt.
Selbst schuld!, schreit es in meinem Kopf. Du hättest die Kiste vor der Reise durchchecken lassen sollen! Dann wäre dir das jetzt erspart geblieben.
»Oder ich wäre erst gar nicht losgekommen«, antworte ich mir gedankenverloren.
Gerade überlege ich, ob ich Marie anrufen und ihr von meinem Dilemma erzählen soll, da sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sich etwas bewegt. Erst denke ich, ich halluziniere. Doch als ich in die Richtung schaue, aus der ich die Bewegung wahrgenommen habe, weiß ich, dass es nicht so ist. Es war keine Einbildung. Ein kleines Mädchen - ich schätze sie auf drei oder vier Jahre - versteckt sich hinter dem Tresen und lugt hervor. Sobald sie sieht, wie ich sie anschaue, verkriecht sie sich wieder.
»Hallo, wer bist denn du?«, frage ich leise. In meinen Ohren klingt es fast, als würde ich singen. Dabei habe ich nur versucht, möglichst freundlich zu klingen, um die Kleine nicht zu verschrecken. Das scheint geklappt zu haben. Das Mädchen kommt aus ihrem Versteck langsam auf mich zu.
Als sie vor mir steht, lächele ich sie an. Statt zurückzulächeln, versteckt das Mädchen ihren Kopf hinter dem Plüschhasen, den sie in den Armen hält.
»Wo ist denn deine Mama?«, frage ich weiter.
Die Kleine antwortet nicht. Ihr Gesicht kommt wieder zum Vorschein, als sie die Hand mit dem Hasen nach unten sinken lässt. Sie geht zielgerichtet auf das Sofa zu und klettert rauf. Bei dem Anblick ist mir ein bisschen mulmig. Ich habe die Befürchtung, sie fällt jeden Moment herunter. Geistesgegenwärtig stelle ich den Becher auf den Tisch, springe auf und gehe zu ihr rüber. Sie zuckt zusammen. Mein plötzliches Auftauchen muss sie erschreckt haben.
»Es ist alles gut«, sage ich und helfe ihr auf die Couch.
Nachdem sie ihre endgültige Sitzposition festgelegt hat, setze ich mich daneben und lächle sie an.
»Bist du hier ganz alleine?«, frage ich, obwohl ich mit keiner Antwort rechne.
Sie grinst mich an, ohne ein Geräusch von sich zu geben.
»Was machen wir beide denn jetzt?«
Das Mädchen hält mir den Hasen hin. Ich weiß nicht, was sie mir sagen will. Dennoch greife ich nach dem Plüschtier und drücke es an mich. Das scheint der Kleinen zu missfallen. Sie streckt die Hände nach dem Plüschhasen aus, um ihn zurück zu bekommen. Sie verzieht den Mund und ist kurz vor dem Weinen. Bevor das passiert, lege ich ihr den Hasen in die Arme. Sie drückt ihn selig an ihre Brust und lächelt mich an.
»Wie heißt du denn?«, wage ich einen neuen Versuch.
»So i«, antwortet sie unverständlich.
»Zoey?«
Sie nickt mir zu. Ich kann nicht anders und muss grinsen. Das Mädchen ist einfach zuckersüß. Sie lächelt mich ebenfalls an.
»Zoey! Hier bist du, wir suchen dich überall«, höre ich eine Männerstimme lautstark rufen. Noch bevor ich mich in die Richtung drehen kann, aus der die Stimme kam, steht ein wahnsinnig gut aussehender Mann im Blaumann vor mir.
Ob das Zoeys Vater ist? Wenn er schon so verdammt gut aussieht, will ich nicht wissen, wie Zoeys Mutter ausschaut. So hübsch, wie die Kleine ist, muss sie ja bombastisch aussehen.
Der Mann setzt sich auf die andere Seite der Couch und nimmt Zoey in die Arme: »Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
In seinem Gesicht ist Erleichterung zu sehen, während er die Kleine fest an sich drückt.
Dann wendet er sich mir zu: »Es tut mir leid! Ich hoffe, Sie hatten keine Umstände wegen meiner Tochter?«
Also doch, er ist ihr Vater. Ich habe es gewusst! So ein Mann muss vergeben sein.
»Nein, um Himmels willen! Es ist alles in Ordnung. Zoey hat mir keine Umstände gemacht.«
»Dann ist ja gut. Warum sind Sie eigentlich hier? Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Wenn Sie mich so fragen. Ich bin wegen meines Autos hier. Es macht so ein beängstigendes quietschendes Geräusch. Ich habe mich einfach nicht mehr getraut, weiter zu fahren.«
»Okay, dann würde ich sagen, schauen wir uns das gleich an«, antwortet er. »Vorher bringe ich Zoey aber zu ihrer Oma, bevor sie wieder verschwindet.«
»Kein Problem.«
»Wenn Sie möchten, können Sie schon raus gehen. Ich komme gleich nach.«
»Ja, mache ich. Vielen Dank!«
»Gut, ich bin sofort wieder da«, sagt der Mann, dessen Name mir noch unbekannt ist.